Autor über die Krise der Kritik: „Das Resultat ist Selbstzerfleischung“
Thomas Edlinger bemängelt in seinem Buch „Der wunde Punkt“ die Inflationierung der Kritik. Und meint damit vor allem Besserwisser und Nörgler im Netz.
taz: Sie diagnostizieren in Ihrem Buch „Der wunde Punkt“ eine Krise der Kritik, Herr Edlinger. Was sind die Ursachen?
Thomas Edlinger: Es gibt eine Inflationierung der kritischen Praxis. Kritik hat sich durch die antiautoritäre Entwicklung der letzten 50 Jahre popularisiert und ist heute ein Missing Link zwischen Wirtshaus, persönlicher Beziehungsarbeit und Professorenpult. Relativ neu ist die Flut an besserwisserischer, nervtötender, teilweise menschenverachtender Kritik, die uns aus sozialen Netzwerken entgegenschwappt.
Das haben wir uns anders erhofft?
Na ja. Man kann sagen, das, was sich da als Kritik selbst darstellt, ist Ressentiment oder Nörgelei, aber es hat schon auch etwas mit dem Anspruch zu tun, das Beobachtete unterscheiden und Einwände formulieren zu können. Auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften finden Sie heute kaum noch ein Seminar, das sich nicht als Kritik herrschender Machtformen versteht. Doch laufen diese Kritikroutinen oft ins Leere. Kapitalismuskritik zum Beispiel ist eines der beliebtesten Genres am Buchmarkt.
Haben Sie Ihre Kritik-Krisen-Kategorien wie Miserabilismus und Hyperkritik anhand von kritischen Medien wie der taz und dem Falter entwickelt?
Nein. Miserabilismus meint nicht nur die lange Geschichte des Schwarzmalereikults, sondern kann auch produktiv sein und Anreize zur Weltverbesserung schaffen, etwa bei einem linken Theoretiker wie Marcuse. Die häufigste Form des Miserabilismus dient aber dazu, sich selbst als allerkritischsten Geist darzustellen, der sich von keiner Tröstung ablenken lässt.
Worum geht es dem Miserabilisten?
Der Kern dieses Miserabilismus ist, dass die Problemlagen so hochgehängt werden, dass sie bitte schön verlässlich nicht lösbar sind. Der Miserabilist fühlt sich erst richtig wunderbar, wenn er vor Weltekel fast zerplatzt. Je schlimmer, desto besser. Berechtigte Kritik am vergitterten Weltbild des Miserabilisten selbst aber wird vom diesem ignoriert oder als angeblich unkritischer Reformismus abgetan.
Was ist für Sie Hyperkritik?
Eine narzisstische, exzessiv übertreibende Kritik, die in der Fetischisierung der Differenz und Stile aufgeht und darüber politisch anspruchsvolle Projekte des Gemeinsamen aus dem Blickfeld verliert. Das lässt sich in binnenfeministischen Debatten verfolgen oder in Alltagsphänomen wie der Impfkritik. Da kippt es. Feministinnen fühlen sich durch einen allgemeinen Feminismus nicht mehr vertreten, weil sie sich nicht nur als Frauen, sondern zum Beispiel auch als afroamerikanische Lesben sehen – das Resultat ist Selbstzerfleischung und Sprechzensur. Radikale Impfkritiker hegen einen Generalverdacht gegen die Medizin und vertrauen lieber prinzipiell auf ihr Gefühl.
Identitätspolitische Projekte sind vorangekommen, das Kollektivgut weniger. Ist Kritik an allem außer sich selbst die logische Begleitung?
Kritik dient als Individualitätsausweis. Die identitätspolitische Unterscheidungssucht führt dazu, dass A niemals B ist und mit B auch nichts mehr teilen will, was man gemeinsam in Anspruch nehmen kann. Das mündet in ein politisches Problem, das mit der ursprünglich als feindlich bezeichneten neoliberalen Vereinzelung gut zusammengeht. Alle unterscheiden sich, aber alle begegnen einander am Markt.
Die heftigsten kritischen Empörungen gelten nicht dem falschen Tun, sondern dem falschen Sprechen. Dann rappelt es in den asozialen Netzwerken. Was tun?
Vielleicht vom Gas steigen. Was durch die periodischen Erregungen über Sprachregelungen verloren geht, ist die Möglichkeit der subversiven Spiele mit Sprache. Das war mal ein produktives Spiel. Heute ist es eine Problemlage. Zwangsjacken führen zu einer Verarmung, auch für jene Benachteiligten, die man meint schützen zu müssen mit diesen Zwangsjacken.
Wer nicht die ganze Schlechtigkeit sieht, wird als affirmativer Paladin der bösen Mächte abgewatscht.
Man kann selbstverständlich die Flüchtlingsströme von heute in Grundsatzartikeln mit Jahrhunderten des Imperialismus, Kolonialismus, Kapitalismus verbinden. Da spricht viel dafür. Dennoch ist es womöglich sinnvoller zu sagen, wie viel Geld wir jetzt für wen zur Verfügung stellen, wie wir Unterkunft, Transport, Arbeit, Bildung organisieren, ohne den Kapitalismus abzuschaffen und die Spätfolgen des Kolonialismus nachträglich ausbügeln zu wollen, sondern indem wir konkrete Handlungen vollziehen.
Das klingt jetzt aber sehr lösungsorientiert.
Eben. Der allerkritischste Kritiker würde sagen: Das ist reformistischer Quatsch und Schmieröl für Funktionalität eines verrottetes System, das abzuschaffen ist. Das zeige ich euch von meinem Aussichtsturm, von dem aus ich das als Einziger sehe. Eine Großkritik, die sich an der Abstraktion solcher Problemlagen abarbeitet, führt dazu, dass sehr viele das liken und sich mit Sicherheit nichts ändert. Weil eine solche Klage ja an niemanden adressiert ist. Der Kapitalismus hat keine Postadresse.
Der Soziologe Armin Nassehi sagt, Kritik muss heute Übersetzung sein. Sie sagen: beobachten und benennen. Ist das die gleiche Richtung?
Ich spreche von einer Kritik, die Dialog wird. Das ist auch Übersetzungsarbeit. Der Kritiker weiß nicht mehr als der Kritisierte, sondern der muss an den Punkt kommen, an dem er selbst ein anderer wird, weil er in der Lage ist, ein anderes Denken über sich selbst herzustellen.
Aus den Höhen einer fundamentalistischen Abstraktionskritik lässt sich leichter absolut formulieren, als wenn man im Flüchtlingsheim arbeitet.
Wenn ich im Asylheim arbeite, helfen mir keine Maximalforderungen. Mir hilft, wenn Asylanträge schneller bearbeitet werden oder Leute schneller in die Arbeitswelt gebracht werden. Dennoch glaube ich, dass auch die Alles-oder-nichts-Kritik eine pragmatische Dimension haben kann, weil sie nämlich eine Karotte vor den Wagen hält: Die wird zwar nie geschnappt, aber sie treibt den Wagen an.
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