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Autor über DDR-Erinnerungen„Euphorie und Untergang“

Was hat die Wende mit den Leuten gemacht? Der Hallenser Autor Bodo Schwarzberg hat 1.600 ehemalige DDR-Bürger befragt.

Die DDR war manchmal ganz schön bunt: Werbung für einen IFA-Trabanten. Foto: dpa
Interview von Christian Heinrich

taz: Herr Schwarzberg, Sie haben sich seit 1998 von 1.600 Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen lassen, inzwischen haben Sie mehrere Bücher von insgesamt 4.500 Seiten veröffentlicht. Wie hat die Wende das Leben der einzelnen Menschen beeinflusst?

Bodo Schwarzberg: Es hat die Leben fast aller Menschen regelrecht durcheinandergewirbelt. Für viele war es ein Einschnitt, von dem aus sich viele Weichen im Leben neu gestellt haben. Davor lief ja der ganze berufliche Weg fast von allein, man ging auf die Polizeischule, machte noch ein Zusatzstudium in der Sowjetunion, alles war vorbestimmt – und kaum zu beeinflussen. Durch die Wende war plötzlich nichts mehr vorherbestimmt und wenig beeinflussbar – man konnte sein Berufsleben plötzlich in die eigene Hand nehmen.

Eine Riesenchance, sich doch noch verwirklichen zu können.

An sich schon: Die neue Freiheit war für fast alle Menschen erst einmal ein Segen. Aber weil niemand diese Freiheit kannte, waren fast alle davon erst einmal überfordert. Das Überschreiten des alten Horizonts war etwas ganz Schwieriges: Lernen durch Versuch und Irrtum – und das auf allen Gebieten des Lebens. Die Euphorie der freien Entfaltung und die Erfahrung des persönlichen Untergangs lagen eng beieinander. Von heute auf morgen hatten sie ein für sie ganz neues System übergestülpt bekommen, von dem sie nur Filme, Werbung und Westpakete kannten. Eine Notarin aus dem Westen erzählte mir, dass sie den Menschen in ihrer Betäubung und glückseligen Orientierungslosigkeit erst einmal dabei helfen musste, selbst aktiv zu werden. Wie suche ich nach Arbeit? Wie melde ich das Grundstück, auf dem mein Haus steht, als Eigentum an?

Den Leuten fehlte das Wissen …

… und das Selbstbewusstsein. Es galt auch Ängste abzulegen, die die Menschen bis 1989 bestimmten, vor Behörden, Poli­ti­kern, Seilschaften. Sie mussten lernen, dass es von ihrer Aktivi­tät abhing, wie es mit ihnen weiter­ging. Sie ­konnten nicht nur al­les selbst in die Hand nehmen, sie mussten es auch. Es konnte positiv ausgehen, wie bei einem meiner Gesprächspartner, einem Autoschlosser, der heute rund 30 Autohäuser mit Hunderten Angestellten besitzt. Er hat eine Art Unternehmer-Gen, lernte schnell die Regeln der Marktwirtschaft. Solche Erfolgsgeschichten sind eher die Ausnahme.

Was geschah bei der Mehrheit der Menschen?

Die meisten sind nicht untergegangen, aber auch nicht glücklich geworden. Der plötzliche Widerspruch zwischen den unendlich vielen Chancen und den persönlichen Möglichkeiten begann ebenso seinen Tribut zu fordern wie der ungewohnte Stress in der Leistungsgesellschaft. Als den ehemaligen DDR-Bürgern unter den neuen Verhältnissen klar wurde, dass sie eigenverantwortlich nicht das erreichen würden, was sie anstrebten, hatte das manchmal auch fatale Folgen. Ich habe einmal einen Bauunternehmer interviewt, der große Träume und Wünsche hatte und sich hoch verschuldete. Das Geschäft lief dann nicht so gut, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Forderungen haben schwer auf ihm gelastet. Ein paar Wochen nach dem Interview ist er mit dem Auto verunglückt. Es geschah auf einer geraden Strecke, man hörte, es sei Selbstmord gewesen. In der DDR wäre er beruflich wohl kaum in eine solche Situation geraten.

Im Interview: Bodo Schwarzberg

50, stammt aus Nordhausen. In Halle studierte er Chemie und Biologie für das Lehramt. 1998 begann er, Lebensgeschichten zu sammeln, inzwischen sind es 1.600. Jedes seiner Gespräche dauerte bis zu vier Stunden. Inzwischen hat er acht Bücher veröffentlicht, zuletzt im Selbstverlag: „Menschenbilder aus der Harz- und Kyffhäuserregion“.

Weil die beruflichen Bahnen da vorbestimmt waren …

… und das hatte trotz aller Eingeschränktheit auch etwas Positives: Es gab einen größeren sozialen Zusammenhalt, Minderwertigkeitsgefühle wurden von der Gemeinschaft abgefedert. Weil man ohnehin kaum etwas an seiner Situation ändern konnte und es bedeutend weniger Freizeit- und Entfaltungsmöglichkeiten gab, hatte man viel mehr Zeit füreinander, vom Gespräch am Gartenzaun bis zu regelmäßigen Feiern. Eine Hausärztin erzählte mir von zwei Nachbarn, die sich vor der Wende oft gegenseitig in ihren Gärten besuchten und auch halfen. Nach der Wende sprachen sie nicht mehr miteinander. Nach der Arbeit waren sie viel zu kaputt für freundliche Worte. Und dann war da auch noch der Neid. Einer verstärkte seinen Lattenzaun durch eine undurchdringliche Koniferenhecke. In der DDR waren die Haustüren zumindest auf dem Lande eigentlich nie abgeschlossen, jeder Besucher konnte einfach die Klinke drücken und eintreten. Trotz Stasi gab es weniger Misstrauen unter den Menschen, als viele vielleicht denken, so manche Hemmschwelle war niedriger, Standesdünkel spielten keine Rolle. Als wir den ersten Weststudenten, die an unserer Uni einsickerten, vom Studentenleben und von ausschweifenden Orgien erzählten, wollten manche das kaum glauben, hatten sie doch das Bild eines diktatorischen, farblosen Systems im Sinn. Ich wollte mit meinen Gesprächen auch einen Teil dazu beitragen, die Zeit vor der Wende so darzustellen, wie sie wirklich war.

Was überwiegt, das Positive oder das Negative?

Eindeutig das Positive. Es macht für die Menschen wieder Sinn, sich in ein Projekt zu vertiefen, es kann sich lohnen, eine Sache zu verfolgen. Das bedeutet: Zeit ist wieder wertvoll geworden. Aber natürlich gibt es auch Schattenseiten: Zeit und Freiheit sind durch den Systemwechsel unlösbar mit dem Thema Geld verbunden worden. Einsamkeit, Depressionen, weniger Kinder, das sind nur einige Folgen der damit einhergehenden Unsicherheiten, Unregelmäßigkeiten und des Stresses. Jeder muss selbst schauen, wo er bleibt.

Gab es nicht auch in der DDR Bevorteilte?

Wer im Staatsdienst gearbeitet hatte, war deshalb noch lange kein bösartiger Regime-Scherge. Da wird heute stark vereinfacht. Der Erfurter Helmut Zinke hat als höherer Polizeioffizier mehr als 800 Bomben entschärft, auch im Vietnamkrieg, und er hatte schon in der DDR einen Sonderstatus. Das Gespräch mit ihm war sehr eindrucksvoll, er hat die Wende gut überstanden, musste aber wegen Staatsnähe für einen Teil seiner Rente vor Gericht ziehen. Er ist auch heute noch ein Star sowie ein gefragter Fachmann, mehrere Städte und Dörfer, in denen er entschärfte, machten ihn zum Ehrenbürger.

Was war mit den höherrangigen Parteifunktionären?

Durch die Wende hat sich für die meisten von ihnen alles geändert. Ihr Wertesystem wurde mit dem 9. November 1989 komplett auf den Kopf gestellt. Frühere NVA-Offiziere, die ideologisch sehr einseitig ausgerichtet waren, hatten als Feindbild die Nato und die Bundeswehr verinnerlicht – nun mussten sie sich plötzlich zum westlichen Bündnis bekennen. Das, was vorher als das einzig Richtige angesehen worden war, wurde plötzlich verteufelt. Das hat manches Leben kaputtgemacht. Frühere Grenzoffiziere mussten in psychische Behandlung, manche waren suizidgefährdet. Als in der Bild-Zeitung in einer Liste von Inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern, kurz IM, der Name eines Hochschuldozenten auftauchte, wandte sich dessen halber Freundeskreis von ihm ab, wenig später verlor er auch noch seinen Job. Von ihnen sprach nach der Wende niemand.

War es nicht richtig, solche Leute zu entlassen? An den Hochschulen sollte es einen Neuanfang geben …

Klar, das war oft berechtigt, solche Menschen haben ihre Macht teilweise auf grausame Weise missbraucht. Sie haben Studenten erpresst, angeschwärzt und Lebenswege zerstört, bloß weil diese religiös waren oder eine unabhängige Hochschulzeitung ins Leben rufen wollten. Aber in vielen anderen Fällen hat man vorschnell geurteilt, meist gab es nicht einmal einen richtigen Prozess. In den sogenannten Personalkommissionen, die über den Verbleib der Mitarbeiter an der Uni urteilten, saß so mancher, den die Partei zuvor am Aufstieg gehindert hatte. Jetzt hatten sie die Chance, persönliche Rechnungen zu begleichen. Denn viele Menschen in der DDR wurden im Interesse ihrer Karriere von der Stasi bedrängt, bei der Bespitzelung mitzumachen. Der Hochschuldozent, dessen Name auf der Liste veröffentlicht worden war, hat mir unter Tränen erzählt, dass man ihn in den 1970er Jahren zur Stasimitarbeit gezwungen hatte, andernfalls hätte er nicht an der Uni bleiben dürfen.

Glauben Sie, dass es immer noch Menschen gibt, die die DDR zurückhaben möchten?

Mancher sehnt sich nach der klaren Strukturiertheit, nach der Übersichtlichkeit. Auch nach dem Respekt, der Lehrern oder auch Polizeibeamten entgegengebracht wurde. Einigen missfällt auch, dass es öffentlich oder auch im Bildungssektor kaum noch thematisiert wird, ob unser System zukunftsweisend ist und trotz seiner Profitbasiertheit diesen Planeten und seine Bewohner erhalten kann. Die DDR-Politiker waren dem eigenen System gegenüber tödlich unkritisch. Heute, so scheint es mir, herrscht wieder eine Art Blindheit gegenüber sich selbst.

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