Autor Jon Savage über Pop und LGBTQ: „Das Androgyne sprach mich sehr an“

Der britische Autor Jon Savage beschreibt in „The Secret Public: How LGBTQ Resistance Shaped Popular Culture“ die Geschichte der Queerness im Pop.

Sylvester James lehnt in gelbem Hemd an eine Wand

Disco-Sänger Sylvester, ca. 1980 Foto: Anthony Barboza/getty

taz: Herr Savage, in „The Secret Public: How LGBTQ Resistance Shaped Popular Culture“ beschreiben Sie, wie queere Kultur die Popmusik von den 1950ern an prägte. Liegt da der Kern von Pop?

Jon Savage: Der queere Subtext trug sicher zum Reiz von Popmusik bei – gerade für die heterosexuelle Jugend, die nicht den gängigen Vorstellungen folgen wollte, wie ein Mann oder eine Frau jeweils zu sein hat. Wer sich mit Popkultur beschäftigte, stieß unweigerlich auf LGBTQ-Themen.

taz: Wurden dank Pop auch einige Vorurteile über Queerness entkräftet?

Savage: Im ersten Jahrzehnt, von dem das Buch handelt – meiner eigenen Kindheit in den 1950er Jahren – war Popkultur etwas für Hardcore-Fans. Danach wurde das offenkundig anders. Damals interessierten sich Leute für Pop, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. In der repressiven britischen Gesellschaft jener Zeit fanden diejenigen ihren Platz im Pop, die etwas Kreatives machen wollten oder einfach rebellisch waren. Ein anderer Umgang mit Sexualität und Geschlechterfragen war Teil davon. Voran kam die queere Emanzipation wohl durch ein Zusammenspiel aus Hard Power, also politischem Aktivismus, und kultureller Soft Power.

Jon Savage, geboren 1953, hatte ein Cambridge-Studium der Altertumswissenschaften erfolgreich abgeschlossen, als er sich 1976 dem Allerneuesten zuwandte: Punk. Er schrieb ab den späten 1970er Jahren für britische Musikmagazine wie Melody Maker und The Face. Mit den Neunzigern wandte er sich der Popgeschichtsschreibung zu, in zahlreichen Büchern und TV-Dokus. Seine bekannteste Publikation ist „Englands Dreaming“ (1991) über die Geschichte des britischen Punk. Zudem arbeitet er dem „British Pop Archive“ zu und unterrichtet Kunstgeschichte in Manchester.

Gerade erschien „The Secret Public: How LGBTQ Resistance Shaped Popular Culture (1955–1979)“ Faber & Faber, London, 784 Seiten, ca. 30 Euro

taz: Was interessiert Sie daran?

Savage: Mich interessiert, wie beides ineinandergriff. Was politische Akteure erreichten, aber auch, wie Geschlechterbilder sich manifestierten: in der Kleidung, in Filmen, vor allem aber in der Musik.

taz: Sie sind selbst schwul. Erinnern Sie sich an einen Aha-Moment, dass Pop da zu ihnen spricht?

Savage: Als Elfjähriger sah ich die Kinks 1964 im Fernsehen mit „You Really Got Me“. Ich dachte, der Gitarrist Dave Davies sei ein Mädchen, wegen seiner superlangen Haare. Als ich herausfand, dass dem nicht so ist, wurde es interessant für mich. Jungs können so aussehen? Fantastisch! Das Androgyne der Sixties-Bands hat mich sehr angesprochen, ob nun bei den Beatles, den Rolling Stones oder den Yardbirds. Gerade in den mittleren 1960er Jahren hatten viele Bands inhaltlich verdichtete Botschaften, sehr zukunftsorientiert. Zugleich waren diese Bands sehr populär. Dass das zusammentraf, war in der Popgeschichte ungewöhnlich.

taz: Man begegnet in Ihrem Buch aber auch Künstler:innen, die eher am Rande stehen, aber durchaus zentral für eine neue Ästhetik waren. Etwa dem halbtauben US-Sänger Johnny Ray, der Anfang der 1950er mit seinem höchst emotionalen Gesangsstil berühmt wurde und wegen seiner Bisexualität in den Fokus der Boulevardpresse geriet. Was war Ihr Highlight bei der Recherche?

Savage: Toll war es, mich in die frühe Disco-Ära zu vertiefen. Davon habe ich seinerzeit wenig mitbekommen, weil ich so sehr in Punk involviert war. Disco wurde über die vergangenen 20 Jahre zu meiner großen Liebe. Am meisten Spaß macht mir der afroamerikanische Sänger Sylvester, dem wir den Song „You Make Me Feel (Mighty Real)“ verdanken.

taz: In der Einleitung erwähnen Sie, dass Sie als Popjournalist Ihre Sexualität zunächst verschwiegen haben, selbst bei einer befreundeten Kollegin – obwohl sie lesbisch war. Hielt man sich in der Punk-Blase für so progressiv, dass man über so etwas nicht reden musste?

Savage: Nein, nein, das war eher verinnerlichte Homophobie. Zu meinem Bedauern hatte ich wenig mit der schwulen Szene zu tun und war auch nicht mit schwuler Politik vertraut. Ich wusste, dass es diese Dinge gab, war dem aber wohl zu entfremdet. Deswegen war es ein Anliegen, über den Gitarristen Tom Robinson zu schreiben. Er brach schon 1979 die Mauer des Schweigens, als Künstler wie auch als Aktivist. Mir ging es mit dem Buch nicht zuletzt darum, anzuerkennen, wie wichtig politisches Handeln ist.

taz: Aber auch Punk wollte die Verhältnisse doch auf den Kopf stellen.

Savage: Punk war neu. Und tatsächlich haben Siouxsie and the Banshees, die Frauenband The Slits und auch Wire frische Ideen in die Welt gebracht, wie junge Leute, ob weiblich oder männlich, sein können. Das war großartig. Doch das Machohafte bei den Stranglers fand ich eher erbärmlich – weil daran nichts neu war. Als ich The Clash Anfang 1976 bei einem ihrer ersten Auftritte sah, waren sie verletzliche Jungs in selbst genähten Klamotten. Das war interessant. Nicht, dass ich persönlich Probleme in der Punkszene gehabt hätte, weil ich schwul bin. Doch es war allgemein eine gewalttätige Zeit – so gesehen bemerkenswert, dass so viel Interessantes daraus entstand.

taz: 2006 haben Sie mit „Queer Noises – 1961–1978 From the Closet to the Charts“ eine Compilation zu dem Thema herausgebracht. Haben Sie da schon an das Buch gedacht?

Savage: Mit Recherche und Niederschrift habe ich 2019 begonnen. Ich musste mich seinerzeit dringend von den trüben politischen Verhältnissen in Großbritannien und dem Brexit, dieser Riesendummheit, ablenken. Nachgedacht hatte ich über das Thema vermutlich schon fast 20 Jahre – was es einfacher machte, beim Schreiben Entscheidungen zu treffen. Die Compilation war eine Art Demotape.

taz: David Bowie markierte mit seinem Outing Anfang 1972 den Moment, in dem das, was unterschwellig brodelte, an die Oberfläche kam – auch wenn die Entkriminalisierung da bereits Jahre zurücklag.

Savage: Es war genau viereinhalb Jahre nach dem Sexual Offences Act von 1967.

taz: Erstaunlich, dass man bei Ihnen noch Neues zu Bowie lesen kann. Man denkt ja, da sei alles gesagt

Savage: Ich hatte das Glück, dass Michael Watts, ein befreundeter Kollege, mir Zitate aus einem unveröffentlichten Interview mit ihm überließ. Ich betrachte Bowie durch das Prisma von Homosexualität und gehe bis Mitte der 1960er Jahre zurück. Auch wenn über Bowie schon sehr viel geschrieben wurde, ist erhellend, sich auf einer Zeitschiene nur auf dieses Thema zu fokussieren. Schon 1970 gab er einem Schwulenmagazin namens Jeremy ein Interview. 1971 finanzierte er eine Benefizveranstaltung der Schwulenbewegung. Durch seinen Freundeskreis war er informiert, was in der Szene passierte. Und wollte wohl auch seine schwulen Freunde nicht im Stich lassen. Bei seinem Outing ging es offensichtlich darum, Aufmerksamkeit erregen – was in Ordnung ist. Interessant war, dass Bowie nach seinem Bekenntnis extrem erfolgreich wurde. Das widerlegte die gängige Meinung, dass man so seine Karriere killt. Stattdessen wurde er 1973 zur größten Sache im britischen Pop.

taz: 1983 nahm er sein Outing in einem Interview mit dem Rolling Stone zurück – war das einem veränderten Zeitgeist, einem Backlash geschuldet?Savage: Ehrlich gesagt, ist mir das egal. Mich persönlich hat er damit nicht enttäuscht. Er war schließlich kein Politiker, sondern Popsänger. Für das Buch war das irrelevant, weil es außerhalb des Zeitrahmens liegt. Wie er sich in den frühen Siebzigern positioniert hat, war sehr mutig.

taz: Was bedeutet „queer“ heute? Gerade jüngere Leute beziehen den Begriff nicht unbedingt auf Sexualität, sondern beschreiben damit eher ein Unbehagen mit Geschlechtergrenzen.

Savage: Das ist grundsätzlich eine gute Entwicklung. Meine Güte, wie entspannend, nicht mehr darüber reden zu müssen, wer mit wem ins Bett geht. Doch leider müssen diese Dinge gesagt werden, weil es Menschen gibt, die Minderheiten angreifen und verfolgen – auch wegen ihrer sexuellen Orientierung.

taz: Sie haben sich mit der Entwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks beschäftigt. Die USA und Großbritannien waren seinerzeit die produktivsten Popnationen. Aber es ging Ihnen ja nicht nur um Kultur, sondern auch um politische Veränderungen. Haben Sie auch in andere Regionen geschaut?

Savage: Nicht wirklich. Ich spreche keine Fremdsprache gut genug. Zumal die USA und Großbritannien ausreichend Material hergaben, um über 700 Seiten zu füllen. Wenn andere Leute die Geschichte fortschreiben, um eine französische oder deutsche Perspektive, fände ich das toll. Als „England’s Dreaming“ 1991 erschien, hieß es oft, es sei das ultimative Buch über Punk. Es ist einfach nur ein Buch, das viel Platz für andere Werke über Punk lässt. Man muss da nicht konkurrieren. Im besten Fall sind meine Bücher Teil eines Dialogs.

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