Ausstellung zu Geschichten von Frauen: Die erste englische Autobiografie kam von ihr
Es gibt sie, Geschichten von exzentrischen, freiheitlichen oder trans Frauen im Mittelalter, wenn man sucht. Das tat die British Library in London.
Manchmal braucht es nur einen Pingpong-Ball, um ein ganzes Leben zu entdecken: Als 1934 während einer Tischtennispartie in einem englischen Herrenhaus bei Chesterfield die Bälle ausgingen, suchte der Gastgeber in einem Schrank nach Ersatz. Zu seinem Ärger fand er jedoch nur einige dünne, in Leder gebundene Bücher.
Eines davon ist jetzt in der Ausstellung „Medieval Women: In Their Own Words“ in der British Library in London zu sehen. Denn das vermeintliche Ärgernis erwies sich als Sensationsfund: Unter den Büchern befand sich das einzig erhaltene Exemplar von „The Book of Margery Kempe“ der gleichnamigen christlichen Mystikerin aus dem 15. Jahrhundert.
Bis dahin war die in England geborene Margery Kempe nur durch einen siebenseitigen Auszug aus diesem Buch bekannt. Darin wird sie als „Anchoress“ dargestellt, eine Frau, die sich in eine Zelle einmauern lässt, um ihr Leben ganz Gott zu widmen.
Das wiederentdeckte Buch zeichnet ein vollkommen anderes Bild von ihrem Leben. Es zeigt Kempe als selbstbewusste und mobile Frau. Auf eigene Faust unternahm sie religiöse Pilgerreisen bis nach Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela, um dort von ihren Visionen zu berichten. Die Analphabetin war von der Bedeutung ihres Lebens so überzeugt, dass sie einen Priester überreden konnte, ihre Geschichte aufzuschreiben. So entstand die vermutlich erste englische Autobiografie. Ein zufälliger Fund, der überraschende Einblicke in das Leben einer Frau im Mittelalter gibt.
„Medieval Women. In Their Own Words“. British Library London, bis 2. März; Essayband (British Library Publishing, 256 Seiten): 30£, ca. 36 €
Dass es noch viel mehr über Frauen in dieser Zeit zu entdecken gibt – das macht die Ausstellung in der British Library jetzt eindringlich deutlich. Über 140 Dokumente und Artefakte aus der Zeit zwischen 1100 und 1500 hat das Team um Chefkuratorin Eleanor Jackson zusammengetragen. Sie geben Einblicke in das private, öffentliche und spirituelle Leben von Frauen im Mittelalter. Und zeigen, wie vielseitig, relevant und selbstbestimmt diese waren.
Feministin der ersten Stunde
Die Geschichten von Frauen im Mittelalter seien „seltener aufgezeichnet“ worden, sagt Jackson gegenüber dem US-amerikanischen Wissenschaftsblatt Smithsonian Magazine. Da Frauen oft nicht den gleichen Bildungsstand wie Männer hatten, hätten viele nicht selbst schreiben können. „Frauengeschichten sind viel schwieriger zu finden, aber sie sind da, wenn man sie sucht“, so Jackson.
Da war zum Beispiel die im 14. Jahrhundert in Italien geborene und in Frankreich aufgewachsene Christine de Pizan. Sie war die erste Autorin in Europa, die von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit leben konnte – und eine Feministin der ersten Stunde. In ihrem bekanntesten Werk, „Le Livre de la Cité des Dames“ („Das Buch von der Stadt der Frauen“), entwirft Pizan eine allegorische Stadt, die von Frauen aus der Geschichte und Mythologie bewohnt wird. Es ist eine Feier weiblicher Errungenschaft.
Am seltensten zu hören sind die Stimmen der Frauen, die im Mittelalter ausgegrenzt und machtlos waren. Doch auch sie kommen in der Ausstellung zu Wort. Zum Beispiel in der Petition von Maria Moriana an den Bürgermeister von London. Sie, eine Immigrantin und vermutlich farbige Frau, prangerte darin das unrechtmäßige Verhalten ihres Herrn an, der sie gegen ihren Willen eingesperrt hatte.
Oder das erstaunliche Dokument eines Gerichtsverfahrens, das 1395 gegen die Prostituierte Eleanor Rykener geführt wurde. Während des Verhörs stellte sich heraus, dass Eleanor als John Rykener geboren worden wurde. Aus heutiger Sicht könnte man sie als eine Transgender-Frau bezeichnen.
Originalbrief von Jeanne d'Arc
Neben mittelalterlichen Manuskripten und Büchern sind auch erstaunliche Objekte zu sehen. Ein sogenannter Birth-Girdle zum Beispiel, der gebärenden Frauen umgelegt wurde und Glück bringen sollte. Vollgeschrieben mit Gebeten und Zaubersprüchen, lässt er erahnen, unter welcher Lebensgefahr damals Kinder zur Welt gebracht wurden. Ein Tierschädel wiederum, der möglicherweise dem Hauslöwen der englischen Königin Margarete von Anjou gehörte, erzählt von der Exzentrik, die Frauen im Zentrum der mittelalterlichen Macht ausleben konnten.
Und natürlich darf Jeanne d’Arc in der Ausstellung nicht fehlen. Zu sehen ist der Originalbrief, mit dem sie 1429 die Bürger der französischen Stadt Riom um militärische Hilfe bat. Jeanne d’Arc, die auch Analphabetin war, hat den Brief diktiert. Nur ihre Unterschrift setzte sie selbst in krakeliger Schrift darunter.
Ein berührend realer Fakt von der Mittelalter-Frau, über die es fast schon wieder zu viele von anderen erzählte Geschichten gibt. Aber wer weiß, vielleicht wird ja eines Tages, während der Suche nach einem Pingpong-Ball, noch eine von ihr diktierte Autobiografie entdeckt.
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