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Ausstellung über Helga GoetzeSie eckte überall an

Eine Ausstellung in der Villa Oppenheim in Berlin erinnert an die Aktivistin und Künstlerin Helga Goetze. Jahrelang hielt sie Mahnwachen für freie Liebe ab.

Helga Goetze an der Gedächtniskirche im Jahr 1988 Foto: Stefan Maria Rother

Das erste Mal geschah eher zufällig. Am 17. Juni 1983 las Helga Goetze an einer Litfaßsäule von einer Veranstaltung des CDU-Politikers Norbert Blüm an der Gedächtniskirche Berlin und entschied spontan, ebenfalls dort hinzugehen, um sich „mal wieder zu zeigen“. Sie nahm den Bus, platzierte sich am Straßenrand und flüsterte den Vorbeilaufenden ihr „Ficken ist Frieden“ und „Wer will Frieden?“ zu.

Aufgeschrieben hat sie das und auch die Reaktionen der Menschen, die vorbeikamen, wie so vieles, Notizen, Tagebücher, Gedichte, Listen, von dem man eine Auswahl derzeit in der Villa Oppenheim im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf besichtigen kann.

Helga Goetzes Ein-Frau-Mahnwache am Breitscheidplatz, in denen sie sich für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau einsetzte, als – wenn man so will – erste sexpositive Aktivistin der Stadt, lange bevor man das so nannte, wurde fortan zum täglichen Ritual, das sie bis in die frühen 2000er Jahre durchzog.

Mehr als stadtbekannt war die „primäre Tabubrecherin“, die in handbestickten Umhängen mit Schildern um den Hals lautstark auf sich aufmerksam machte, mit heller Stimme umgetextete Volkslieder sang, Pas­san­t:in­nen provozierte und es immer wieder mit der Polizei zu tun bekam.

Die Ausstellung

„Weibliches Wesen, geistig vielseitig interessiert, sucht – Helga Goetze“: Villa Oppenheim, Berlin. Bis 15. März 2026, nächste Veranstaltung: Erzählsalon „Wer erinnert an Helga?“, 30. November, 14 Uhr

Einladung zur Kontaktaufnahme

„Weibliches Wesen, geistig vielseitig interessiert, sucht“, der Titel der Charlottenburger Ausstellung zitiert den Text von Goetzes Kontaktanzeigen, die sie Anfang der 1970er Jahre in den St.-Pauli-Nachrichten aufgab, als sie noch in Hamburg bei Mann und Kindern lebte. Wie dort ist er als Einladung zur Kontaktaufnahme zu verstehen, für diejenigen, die sie noch erlebt haben (Goetze starb 2008) wie für jene, die sich ihren Ideen, ihrer Kunst und der Beharrlichkeit, mit der sie ihren Platz in der Stadt behauptete, von heute aus annähern.

Helga Sophia Goetze, „Meine eigene Geschichte“, Stickbild aus dem Jahr 1984 Foto: © Helga-Goetze-Stiftung im Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Michael Setzpfandt; Berlin

Die Ausstellung schmiegt sich im ersten Stock der Villa Oppenheim zwischen die Sammlung, zwischen Ölschinken mit Gebirgslandschaften, Stillleben, Sittengemälden, erzählt Goetzes Geschichte in Dokumenten, in Briefen, Polizeiprotokollen, Zeitungsartikeln, mit Filmmaterial und mit Werken Goetzes, mit ihren Texten, Grafiken und knallbunten, paradiesisch-erotischen Stickbildern.

Letztere werden seit ein paar Jahren durch die Helga-Goetze-Stiftung im Stadtmuseum Berlin bewahrt, ihre Schriften im feministischen Archiv FFBIZ, so umfangreich ausgestellt wurde ihr Nachlass bislang noch nicht.

Helga Sophia Goetze, geboren 1922 in Magdeburg, später lange Zeit wohnhaft in Hamburg, heiratete mit 20 Jahren, bekam sieben Kinder, lebte ein gesittetes Leben als Hausfrau, bis zu einer folgenschweren Begegnung mit einem anderen Mann während eines Sizilien-Urlaubs 1968. Ein sexuelles Erweckungserlebnis, das sie nicht mehr losließ. 1974 verließ sie ihre Familie, zog vier Jahre später nach Berlin, lebte erst in Kreuzberg, zog später nach Charlottenburg, gründete dort ihre „Geni(t)ale Universität“ und hielt ihre „Märchenstunden“ ab.

„Schamlose Alte“

Und sie eckte fast überall an, auch bei der Frauenbewegung der 1980er Jahre. Zu laut war sie, zu viel, zu anders. Als „schamlose Alte“ bezeichnete die Frauenzeitung Courage sie 1983. Der Titel hängt samt differenzierterem Interview in der Ausstellung. Die Irritationen, die sie offenbar in diesen Kreisen auslöste, waren auch Thema bei einem Spaziergang im November im Rahmen des empfehlenswerten Begleitprogramms.

Vor Ort zu sehen ist auch das, was Goetze im Jahr 1973 bekannt machte: die ARD-Talkshow „Podium“, wo Goetze als aus ihrer Rolle gefallene Durchschnittsfrau eingeladen war.

Faszinierend ist es, diese Sendung heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, anzuschauen, nicht nur wegen Goetze, die dort noch brav gekämmt und zugeknöpft neben weiteren Gästen sitzt und ausführt, warum sie glaubt, dass sich weibliche Sexualität erst im höheren Alter entfalte oder wie sie sich eine „Polygamie“ vorstellte, die zu leben „große geistige Reife“ erfordere. Hinzuschauen lohnt sich auch, weil es solche Sendungen gar nicht mehr gibt, die Diskussionen in großer Runde Raum und Zeit lassen.

Die Ausstellung nähert sich Helga Goetze von vielen Seiten, auch dem, was an ihr problematisch war, ihrer Nähe zur Kommune des österreichischen Aktionskünstlers Otto Muehl etwa, der 1991 wegen Missbrauchs von Minderjährigen verurteilt wurde. Stimmen von heutigen Künst­le­r:in­nen kommen ebenfalls zu Wort, die sie in aktuelle queerfeministische Diskurse einzuordnen versuchen. Auch da passt sie freilich nicht wirklich hinein.

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