Ausstellung am Berliner Kulturforum: Ein zeitgemäßes Leuchten
„Spätgotik“ ist eine anmutige, in elegantes Blau getauchte Schau. Vier Berliner Häuser haben sie gemeinsam konzipiert.
Nun ja, wie eine populäre Blockbuster-Ausstellung kündigt sich die Ausstellung mit dem Titel „Spätgotik“ in der Berliner Gemäldegalerie wirklich nicht an. Zunächst denkt man an dunkle hohe Kirchen, höfisch-strenge Glaubensrituale und den mächtigen Klerus, mehr an Buße und Sühne als an fröhliche Lebenszugewandtheit oder gar Profanes.
Doch der Eindruck täuscht. Die Spätgotik, die Epoche ab 1420/30 bis 1500, ist eines der innovativsten Kapitel der Kunstgeschichte, wo Malerei, Skulptur, Druck und Goldschmiedekunst zwischen formaler und inhaltlicher Befreiung und Glaubensvorgaben balancieren. Und auch wenn ihr diese Widersprüchlichkeit eingeschrieben bleibt, ist die Spätgotik in ihrem starken Erneuerungswillen ein Wegweiser für die Renaissance.
Wer die außergewöhnliche Tafel „Der Liebeszauber“, um 1470 von einem Kölner Meister gefertigt, entdeckt, sieht, wie der künstlerische Freiheitsdrang sich neue Themen suchte: Liebespaare! Nahezu Instagram-tauglich posiert da ein langhaariges blondes Mädchen wie ein GNTM-Sternchen mit Knospenbrüstchen und in spitzen Schläppchen, ihre Nacktheit wird durch ein transparentes Tuch noch unterstrichen.
Die zarte Lady gießt Zauberwasser über ein rotes Herz in einer Schatulle, um die Funken gleichzeitig wieder zu löschen. Wird es für die Liebe reichen? Für die Verführung allemal – der Jüngling lugt bereits durch den Türrahmen im Hintergrund.
Kunst für das das libidinöse Spiel in Schlafgemächern
Ein derart stimulierendes Bild wie „Liebeszauber“ hätte den Kirchenmännern die Schamesröte ins Gesicht getrieben, doch so ein Werk entstand natürlich nicht für die Betbank, sondern für die Schlafgemächer und das libidinöse Spiel reicher Kauf- oder Adelsmänner. Ein Berliner Schatz – laut Kurator Stephan Kemperdick das einzig erhaltene erotische Tafelbild aus der Zeit.
Angeregt durch niederländische Entwicklungen veränderten sich ab den 1420er-Jahren die bildnerischen Ausdrucksmittel: Licht und Schatten, Körper und Raum samt Materialität führen zu zunehmend wirklichkeitsnaher Gestaltung. Man muss die Augen zukneifen, um zu erkennen, dass die schillernden Edelsteine auf dem Hut des Königs Salomon von Konrad Witz nicht echte, auf das Bild gesetzte Diamanten sind, sondern tatsächlich gemalt.
„Spätgotik“ ist bis 5. September in der Gemäldegalerie am Kulturforum zu sehen, Mo.–Fr. 10–18 Uhr, Sa./So. 11–18 Uhr
Auch Emotionalität wird – für damalige Verhältnisse – eine eigene Bildqualität. Die Heilige Katharina (1450/1470) schaut so, als wolle sie den Himmel verfluchen vor lauter irdischer Sorgen. Auf den Altarbildern der „Karlsruher Passion“ (1450) zeigen die Folterer Jesu derbe, fratzenhafte Gesichter, ihr Ausdruck wirkt so, als säßen Männer aus dem Volk am Stammtisch zusammen. Sogar eine Fliege bekommt ihren Einsatz. Wo ist der arme Gottessohn da nur hineingeraten?
Motive aus dem Alltag nehmen zu, auch die Porträtmalerei entwickelt sich – deutlich ohne direkten religiösen Bezug. Das „Bildnis des Alexander Mornauer“ (1470/80) verweist auf seine Amtsführung als Stadtschreiber und gesellschaftliche Stellung. Erstaunlich, wie plastisch auch seine Hände ausgearbeitet sind.
Zu sehen in der Gemäldegalerie
Mit Erfindung der Drucktechnik und den beweglichen Lettern finden diese Veränderungen eine massenhafte Verbreitung in ganz Europa. Künstler erlangen überregionale Berühmtheit, signieren selbstbewusst ihre Werke, das gab es vorher nur höchst selten.
Die Initiatoren des ersten Neuerungsschubs sind Hans Multscher in Ulm, Stefan Lochner in Köln und Konrad Witz in Basel – alle drei sind durch Hauptwerke in der Schau vertreten.
Das Schöne ist, dass sich für diese Schau mit Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett, Kunstgewerbemuseum und Skulpturensammlung vier Berliner Häuser zusammengefunden haben, die ermöglichen, das 15. Jahrhundert sowohl mit den verschiedenen Techniken als auch gattungsübergreifend – mit Ausnahme der Architektur – aufzufächern
Das gab es noch nie in Berlin. Meist gestalteten sich Ausstellungen zum 15. Jahrhundert rein regional, zum Thema Oberrhein bespielsweise, oder auf die einzelnen Gattungen Skulptur, Malerei und Grafik bezogen.
Gotik erfährt ein zeitgemäßes Leuchten
Hundertdreißig Werke werden in der Wandelhalle der Gemäldegalerie stimmig präsentiert: Altarbilder, Gemälde, Kupferstiche, Buchdrucke, Skulpturen, Teppiche und Goldschmiedekunst.
Die verschiedenen Zentren wie Basel, Nürnberg oder Köln beleuchten sich dabei gegenseitig. Und das Kupferstichkabinett darf glänzen, beherbergt es doch weltweit die größte Sammlung an Grafiken. Hans Multschers furioser „Wurzacher Flügelaltar“ (1437) ist ohnehin eine „Hausmarke“, mit weit über 500 Jahren ist er so fragil, dass man ihn nur in der Hauptstadt sehen kann.
Es ist eine anmutige, in elegantes Blau getauchte, sehr gut konzipierte Schau, die einmal mehr zeigt, was Berlin mit seinen bemerkenswert reichen Sammlungen leisten kann, und wie mit ganz wunderbarer Lichtführung die Gotik ein zeitgemäßes Leuchten erfährt, das sein Publikum gefangen nimmt.
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