Ausstellung José Leonilson in Berlin: Ein stickender Popstar
Der brasilianische Künstler José Leonilson starb mit 36 Jahren an Aids. Eine große Retrospektive macht mit seinem berührenden Werk vertraut.
Nach der langen Schließungspause von Museen und Galerien, öffnet auch die schon seit Ende November fertig aufgebaute Ausstellung „Leonilson. Drawn 1975–1993“ für das Publikum. Der 1957 in Fortaleza geborene José Leonilson ist heute außerhalb Brasiliens nur wenigen bekannt. Erstmalig in Europa zeigt das Berliner KW nun eine Retrospektive mit etwa 250 Exponaten des früh verstorbenen Künstlers.
Über drei Stockwerke erstreckt sich der chronologisch biografisch angelegte Parcours, der Zeichnungen, Malerei, Installationen, Stickereien und Textilarbeiten präsentiert. Der Rundgang beginnt mit humorvollen Filzstiftzeichnungen von Sexarbeiterinnen. Mit Kugelschreiber sind deren Personalien und Vorlieben zusätzlich vermerkt. Ebenfalls in dieser Technik entsteht 1976 ein Mode-Fanzine, das sich „Vogue Ideal“ nennt. Auch die von Leonilson gestalteten Plakate zu ersten Ausstellungen tragen deutliche Anleihen an die musik- und modebegeisterte Jugendkultur der 1980er Jahre.
Im begleitenden Katalog erinnert sich der norwegische Galerist Jan Fjeld im Interview an jene Jahre in São Paulo, an ihre Freundschaft, ihren Umgang mit Homosexualität und die gemeinsame Leidenschaft für internationale Musik, Mode und Literatur: „Für Brasilianer war hier alles brasilianisch – alle Produkte waren brasilianisch. Zum Beispiel an neue Veröffentlichungen einer Band zu kommen, war unmöglich. Es kostete ein Vermögen. Das Magazin The Face konnte ich nicht einfach kaufen …“
In den frühen 1980er Jahren hatten sich Fjeld und sein damaliger Lebenspartner, der heutige Galerist Eduardo Brandão, mit dem jungen Leonilson angefreundet. In São Paulo teilten sie ab 1987 ein Apartment, zogen gemeinsam um und wohnten bis kurz vor Leonilsons Tod zusammen.
Neue Generation
1978 hatte Leonilson begonnen, in São Paulo Kunstpädagogik zu studieren. Dort lebte seine streng katholische Familie schon seit 1961. In Brasilien herrschte von 1964 bis 1985 eine repressive Militärdiktatur. Im Übergang zur Demokratie nahm Leonilson an mehreren viel beachteten Ausstellungen teil. Bald wurde der junge Künstler zu einem bekannten Vertreter der sogenannten „Geração 80“, jener neuen Generation, die in Brasilien nicht mehr konstruktiv, sondern subjektiv malte.
Leonilson: „Drawn 1975–1993“. KW Institute for Contemporary Art, Berlin. Die Ausstellung ist derzeit geöffnet. Sie soll – ebenso wie die Ausstellung Amelie von Wulffen am gleichen Ort – bis 24.05.2021 gezeigt werden. Tickets sind online mit Zeitfenster vorab über die Homepage zu buchen.
Seine sparsam komponierten, oftmals mit Text oder Ziffern versehenen, ungerahmten Leinwände scheinen trotzdem der Zeichnung näher als der Malerei.
Ende der 1980er Jahre entdeckt Leonilson, dessen Vater Textilhändler war, Stoffe und Stickereien für sich als ausdrucksstarkes Medium. Knopfbilder, Verbindungen aus Filz und Kristall, Segeltuch und Halbedelsteinen entstehen. Feine Spitze wird mit grobem Leinen, Samt und ungelenken Textstickereien kombiniert. So sind an den äußersten Rändern einer weißen Leinwand die gestickten Zeilen zu lesen: „Leo nao pose mudar o mundo …“ Leo kann die Welt nicht verändern, die Götter lassen keine Konkurrenz mit ihnen zu – die Wüste, der Ozean, die Jungen, die Poesie.
Leonilsons fragil anmutenden Arbeiten berühren. Mit der Aufrichtigkeit eines Tagebuchs verhandeln sie Liebe, Fremdheit und die Herausforderungen eines Lebens als Außenseiter.
Internationale Verbindungen
Ab 1981 unternimmt der Künstler aus Lateinamerika längere Reisen durch Europa und in die USA. Unterwegs zu sein, Ausstellungsaufenthalte und -besuche in Mailand, Paris, München, Amsterdam oder New York inspirieren ihn. Besonders nachhaltig beeindruckt ihn das Werk der Arte-Povera-Künstlerin Eva Hesse.
Einen Hinweis auf seine Auseinandersetzung mit Protagonisten innerhalb und außerhalb der Kunstwelt entdeckt man auf der 1988 entstandenen Arbeit „São Tantas As Verdades“ (Es gibt so viele Wahrheiten). Hunderte von Namen – Eva Hesse, Agnes Martín, Twombly, Stella, Beuys, Warhol genauso wie Chanel, Balenciaga oder Yamamoto reihen sich auf der unbehandelten Leinwand aneinander.
Eine bemerkenswerte Zeitreise in dieser vom Direktor des KW, Krist Gruijthuijsen, kuratierten Überblicksschau bietet eine private Sammlung ausgefallener Postkarten und illustrierter Briefe. Über viele Jahre hatte Leonilson seinem Freund Albert Hien in München geschrieben und ihm in der Ferne Vorhaben und Emotionen anvertraut. Die beiden Künstler hatten sich 1985 auf der Biennale in São Paulo kennengelernt, waren zusammen durch Brasilien gereist, hatten sich besucht und auch gemeinsam ausgestellt.
Als José Leonilson 1991 die Diagnose HIV+ erhält, wird die Krankheit, Verletzbarkeit, Stigmatisierung und der Tod zum bestimmenden Thema in seinem Œuvre. In diesem Jahr entsteht „The Game is over“. Auf die weite Fläche der rotbraunen Leinwand malt er die Figur eines umstürzenden Wasserkrugs in Flammen. Im folgenden Jahr zeichnet er mit feinen Linien die Serie „O perigoso“ (Der Gefährliche), die mit einem Tropfen seines eigenen Blutes beginnt.
Pointierte Vignetten
Einen Kontrast zu den melancholischen und autobiografischen Arbeiten bildet eine umfangreiche Serie von Illustrationen, die Leonilson ab 1991 für die wöchentliche Kolumne einer Bekannten in der Tageszeitung Folha de São Paulo veröffentlichte. Diese akkurat gezeichneten, pointierten Vignetten geben einen Eindruck von den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen in Brasilien der 1990er Jahre. Einmal mehr präsentiert sich Leonilson darin als genauso scharfsinniger wie humorvoller Beobachter der Verhältnisse.
In der letzten Schaffensphase arbeitet der Künstler, schon sehr geschwächt, mit leichten, farbigen Stoffen, die er von Hand zusammennäht und mit eindringlichen Begriffen wie „Les Moments“, „Ninguém“ (Niemand) oder „O imperfeito“ (Der Unvollkommene) bestickt. Fast zwangsläufig ist in solch einer Überblicksschau die Idealisierung eines Künstlers angelegt. Dem steuert der Kurator nicht zuletzt in dem vielstimmig konzipierten Katalog zur Ausstellung entgegen.
In der Publikation kommen Weggefährten und Kunstkritiker*Innen gleichermaßen zu Wort. Gemeinsam lassen sie ein lebendiges Bild Leonilsons und seiner Zeit entstehen. In einem für die Berliner Ausstellung aufgezeichneten Gespräch zwischen Lisette Lagnado und Krist Gruijthuijsen macht die brasilianische Kuratorin deutlich, dass dieser Künstler schon zu Lebzeiten gefeiert wurde und es sich bei ihm keineswegs um eine posthume Neuentdeckung handelt.
Lagnado, zuletzt Kuratorin der Berlin Biennale 2020, organisierte schon 1995 in São Paulo die erste Retrospektive zu Leonilsons Werk und insistiert darauf: „Er war ein Popstar, ein Teil des Kunstmarktes.“ 28 Jahre nach seinem Tod gibt die Ausstellung „Leonilson. Drawn 1975–1993“ nun auch hier die Gelegenheit, ihn kennenzulernen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Studie zu Zweitem Weltkrieg
„Die Deutschen sind nackt und sie schreien“