Außenbeauftragter der Krimtataren: „Die Abspaltung ist ein Mythos“
Seit dem Sieg der Maidan-Revolution heißt es oft, dass eine Sezession der Krim drohe. Das Gegenteil sei der Fall, sagt Krimtatar Ali Khamzin.
taz: Herr Khamzin, in der Ukraine wurden bereits Dutzende Lenin-Statuen vom Sockel gestürzt. Und auf der Krim?
Ali Khamzin: Auf der Krim wurden bisher drei Lenins gestürzt. Das passierte aber immer in der Nacht. Tagsüber ist es schwierig. Es gibt noch viele Leute, die Lenin beschützen wollen.
Warum?
Nach der Deportation von uns Krimtataren 1944 wurde die Krim mit demobilisierten sowjetischen Dienstgraden bevölkert, von normalen Armeereservisten bis zu ausgemusterten KGB-Leuten. Deswegen ist die Halbinsel heute ein Sammelbecken von Chauvinisten, Sowjetnostalgikern und Leuten, die dem russischen Präsidenten Putin hörig sind. Für diese Kräfte sind sowjetische Symbole wie Lenin-Statuen nach wie vor etwas Heiliges.
Was passiert mit dem Lenin, der bei Ihnen in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, steht?
Wir Krimtataren – auf der Krim sind wir insgesamt etwa 300.000 Menschen – haben der Stadtverwaltung von Simferopol ein Ultimatum gestellt: Wenn die Stadtoberen die Lenin-Statue nicht innerhalb von zehn Tagen selbst abräumen, wird sie von uns zu Fall gebracht. Sie wollen es hinauszögern und reden von einem Referendum über die Frage, was mit Lenin werden soll.
Das bedeutet, die Krimtataren unterstützen klar den demokratischen Umbruch in der Ukraine?
Wir Krimtataren haben eine europäische Mentalität. Wir bekennen uns zu europäischen Werten, zu den demokratischen Prinzipien, zu Menschenrechten und zum Schutz von Minderheiten. Daher unterstützen wir auch die europäische Ausrichtung der Ukraine und das Assoziierungsabkommen mit der EU. Und zu dieser europäischen Ukraine wird die Krim dazugehören.
Aber könnte die Ukraine nicht zerfallen?
Es ist ein Mythos, dass sich der Südosten der Ukraine, das Donbass, der Schwarzmeerraum und die Krim, abspalten wollen. Natürlich gibt es in Gebieten wie Luhansk, Charkiw, Donezk, chauvinistische Kräfte. Sie gibt es besonders wieder, seitdem Wladimir Putin in Russland an der Macht ist. Aber man darf eines nicht unterschätzen – die Jugend hat sich völlig verändert. Viele waren im Westen, haben gesehen, wie die Menschen leben, haben gesehen, wie eine Gesellschaft aufgebaut sein kann.
Woran wird das deutlich?
Schauen Sie sich die Bilder von den Toten auf dem Maidan von Kiew an. Das sind alles junge Gesichter. Diese Leute wollten nicht mehr nach sowjetischen Prinzipien leben. Und das macht auch vor dem Osten nicht Halt. Der Gouverneur von Charkiw kommt nicht mehr in sein Büro, weil das Gebäude seit Tagen von jungen Leuten belagert wird.
Trotz allem Optimismus, ist nicht die Gefahr einer Sezession von der Ukraine auf der Krim besonders groß?
Am vergangenen Freitag wollte der Oberste Sowjet der Autonomen Republik Krim, der von der Janukowitsch-Partei dominiert ist, sich an Russlands Präsident Putin wenden, um Unterstützung zu erhalten. Es gibt sogar Stimmen, die behaupteten, dass Putin bereit war, die Unabhängigkeit der Krim anzuerkennen.
Warum ist es nicht zu dieser Anerkennung gekommen?
Wir Krimtataren haben den Abgeordneten ganz klar gesagt: Wenn das stattfindet, dann marschieren wir da rein in euren Saal, und dann bleiben wir dort und blockieren eure Arbeit. Das haben wir ganz ruhig gesagt, ohne irgendwelche Hysterie. Und es fand nichts dergleichen statt.
Also gibt es doch Sezessionsbestrebungen?
Das muss man den Leuten auf dem Maidan von Kiew ganz deutlich sagen: Ohne uns Tataren würde die Krim längst nicht mehr zur Ukraine gehören.
wurde 1958 in Usbekistan geboren, wohin sein Volk – die Krimtataren – 1944 deportiert worden waren. In den 1990er Jahren kehrt er zusammen mit vielen anderen Tataren zurück auf die Krim. Khamzin ist Mitglied des Milli Medschlis genannten Nationalrats der Krimtataren, der aus 33 Personen besteht und Organ der Selbstverwaltung der Minderheit ist. Dort ist Khamzin für Außenbeziehungen zuständig.
Welche Rolle spielt die russische Schwarzmeerflotte, die in Sewastopol auf der Krim stationiert ist?
Die Schwarzmeerflotte hat eine unselige Rolle im russisch-georgischen Krieg 2008 gespielt. Ich denke aber, dass die russische Marine jetzt keinen Einfluss auf die Geschehnisse haben wird. Russland wird sich das hundertmal überlegen, bevor es Militär einsetzt.
Warum?
Putin hat begriffen, dass er nichts mehr ausrichten kann. Die Menschen haben sich hier komplett verändert. Militärische Mittel einzusetzen, würde in einem Desaster enden. Außerdem gibt es noch das Budapester Memorandum von 1994 (siehe Seite 2), in dem die USA, Großbritannien und Russland der Ukraine wirtschaftliche und politische Sicherheit garantieren – als Gegenleistung dafür, dass das Land damals seine Atomwaffen abgegeben hat.
Welche Personen sehen Sie als politische Akteure in der Ukraine der Zukunft?
Es muss eine Mischung gehen aus den Kräften der Orangen Revolution von 2004 und Leuten des Euromaidan von heute.
Hat die Orange Revolution 2004 denn nicht versagt?
Sicher, damals mussten wir alle Hoffnungen beerdigen. Dennoch war die Orange Revolution nicht vergeblich. Denn ohne Orange Revolution gäbe es heute keinen Euromaidan. Zu seinen Akteuren gehören Vitali Klitschko, Arsenij Jazenjuk und auch Oleg Tjagnibok von der Partei Swoboda. Und Julia Timoschenko wird bestimmt auch einen Platz finden.
Was ist, wenn auch dieser Aufbruch scheitert?
Diese Menschen haben eine große Verantwortung. Denn wenn das diesmal wieder so ausgeht wie bei der Orangen Revolution, wird es die Ukraine in dieser Form nicht mehr lange geben.
Wie groß ist Ihr Vertrauen in die neuen politischen Führer?
Seit unserer Rückkehr auf die Krim vor über zwanzig Jahren kämpfen wir für unsere Rechte. Und ehrlich gesagt, misstraue ich tief im Inneren auch ein wenig den politischen Gewinnern des Euromaidan. Wir Krimtataren haben eine andere Kultur und eine andere Religion. Wir sind Muslime. Wir sind anders. Und ich habe Angst, dass uns der Euromaidan schließlich genauso schief anschaut, wie das die Präsidenten Wiktor Juschtschenko und Wiktor Janukowitsch auch immer getan haben.
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