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Ausnahmezustand in Peru verhängtAuf der Straße gegen das Parlament

In Peru reißen die Proteste nicht ab. Nicht alle wollen den abgesetzten Pedro Castillo zurück – aber die Schließung des Kongresses und Neuwahlen.

In Lima stehen Demonstrierende einem großen Polizeiaufgebot gegenüber Foto: Sebastian Castaneda/reuters

Lima taz | Rund 150 Demonstranten, meist Männer, stehen am Mittwochnachmittag vor der Plaza San Martin in der Hauptstadt Lima, vor ihnen auf der Straße ein breites Plakat: Sofortige Neuwahlen und „Schließung des Kongresses“ steht darauf. Unterschrieben von einer Vereinigung von ehemaligen Soldaten, sogenannten Reservisten.

Die neue Präsidentin Dina Boluarte hat ein paar Stunden vorher den Ausnahmezustand ausgerufen. Reihen von Soldaten mit Schutzkleidung und Gummigeschossen bewachen den Platz. Daneben verkaufen venezolanische Migrantinnen heißen Kaffee und fliegende Händler bringen Peru-Fahnen und sonstige Devotionalien an die Leute.

Edith Velarde steht neben einer Gruppe indigener Reservisten. Die 63-jährige kleine Frau mit den grauen Locken und dem Corona-Mundschutz ist im Hauptberuf Dozentin für Biochemie; seit fünf Tagen kümmert sich darum, dass die Demonstranten etwas zu essen bekommen. Velarde möchte, dass Pedro Castillo wieder ins Amt zurückkommt.- Aber ist Castillo nicht selbst schuld an seiner Verhaftung? Immerhin hat er das Parlament auflösen wollen.- Nein, das war eine Falle. Sie haben ihn dazu gezwungen.- Wer?- Die Ultrarechten im Parlament.- Aber steht Castillo nicht selber unter Korruptionsverdacht?- Nichts davon ist bewiesen. Sind alles Anschuldigungen der Rechten, die es nicht verwunden haben, dass ein Indio Präsident wird.

Fünf Tage ist es her, dass Pedro Castillo nach einem verfehlten Putsch zuerst abgesetzt und dann verhaftet wurde. Im Internet zirkulieren seitdem angeblich handschriftliche Briefe Castillos auf einem abgerissenen Stück Papier, in denen er sich zum Opfer stilisiert. Es funktioniert. Viele, die ihn vor fünf Tagen noch als unfähigen und unbeliebten Regierungschef wahrnahmen, sehen ihn ihm nun das Opfer einer rechten Intrige, einen verratenen Sohn des Volkes. Die befreundeten Linksregierungen von Kolumbien, Argentinien, Bolivien und Mexiko haben ihm ihre Solidarität ausgedrückt. In Buenos Aires protestieren Argentinier vor der peruanischen Botschaft für die Freilassung Castillos.

Das Parlament ist allgemein verhasst

Seit der Kongress am 7. Dezember zuerst Castillo ab- und seine Vizepräsidentin Dina Boluarte eingesetzt hat, kommt Peru nicht zur Ruhe. Zur gleichen Zeit, als die Parlamentarier in der Hauptstadt ihren Sieg über Castillo feierten, starb im Kugelhagel der Polizei im Andenstädtchen Andahuaylas ein 15-jähriger Schüler. Sieben Menschen sind seitdem von der Polizei erschossen worden, weil sie protestieren oder auch nur bei Protesten zuschauten.

Vor allem in den Dörfern und Städten Südperus gingen Tausende auf die Straßen, es brannten Gerichtsgebäude und Fabriken, Hauptverkehrswege sind blockiert, Flughäfen besetzt. Castillo hat seine Anhängerschaft auf dem Land und vor allem im indigen geprägten Süden des Landes. Die Parlamentarier hat es nicht gekümmert, sie feierten ihren Sieg über Castillo und vergaßen dabei, dass die Bevölkerung sie noch sehr viel mehr hasst als den ungeliebten Präsidenten.

Seit Beginn seiner Amtszeit versuchte der Kongress Castillo abzusetzen oder ihm zumindest das Regieren zu verunmöglichen. Sogar Auslandsreisen verboten sie ihm. Die Siegesfeier der Parlamentarier war in den Augen vieler der blanke Hohn und ein weiterer Beweis dafür, dass es ihnen nie um das Wohl ihrer Wähler ging, sondern nur um ihre Partikularinteressen. Der gemeinsame Nenner aller Demonstranten ist denn auch: Schließung des Kongresses und Neuwahlen.

Dass Präsidentin Dina Boluarte – die von den Anhängern Castillos als Verräterin gesehen wird – Neuwahlen für April 2024 ankündigte, hat die Aufständischen nicht beruhigt. Sie wollen ihre Abgeordneten lieber heute als morgen loswerden.

Reformbedarf und Anspannung auf der Straße

Dabei ist es durchaus sinnvoll, dass das peruanische Wahlrecht reformiert wird, bevor es Neuwahlen gibt: die Möglichkeit, dass sich Präsident und Parlament gegenseitig einfach absetzen können, muss abgeschafft werden. Parlamentariern sollte die direkte Wiederwahl erlaubt sein – die ist bisher nicht möglich, und so mancher Parlamentarier tut alles, um seinen Einfluss und ein gutes Gehalt nicht durch Neuwahlen zu gefährden.

Mit einem längeren Vorlauf könnten sich neue Parteien bilden und Vorwahlen durchführen. Denn sonst ist die Gefahr groß, dass wiederum eine Gruppe politischer Glücksritter in den Kongress gewählt wird, die sich keinen Deut um ihre Wähler kümmern.

Politische Parteien gibt es in Peru praktisch nicht mehr, und die Gruppe der Protestler ist nicht über einen Kamm zu scheren: Provinzpolitiker, Händler, Bauerngemeinschaften, Landarbeiter, Bürgerwehren gehören genauso dazu wie illegale Goldgräber und Kokabauern. Nicht alle wollen Castillo zurück. Einige wollen eine neue Verfassung. Wie immer auch eine Lösung aussehen wird: sie wird Neuwahlen noch im Jahr 2023 vorsehen müssen. Und der ungeliebte Kongress muss ihnen zustimmen.

Die Anspannung in Peru ist mit Händen zu greifen: Für Donnerstag haben Gruppen und Bewegungen im ganzen Land zum nationalen Protesttag aufgerufen. Abordnungen seien auf dem Weg nach Lima, heißt es. Derweil ruft die Regierung für 30 Tage den Notstand aus und verbietet Menschenansammlungen. Nationale Infrastruktur steht bereits unter dem Schutz von Polizei und Militär. Am Donnerstag will das Gericht über eine Untersuchungshaft für Pedro Castillo entscheiden. Vielerorts sind die Schulen bereits geschlossen.

An Weihnachten ist in Peru vorerst noch nicht zu denken.

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