piwik no script img

Auschwitz-Prozess in DetmoldBeihilfe zum Mord in 170.000 Fällen

In Detmold steht ein ehemaliger SS-Wachmann des KZ Auschwitz vor Gericht. Der Angeklagte streitet eine Beteiligung an Mord ab.

Torgebäude des ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau. Foto: dpa

Detmold taz | „Ich freue mich, dass ein solcher Prozess stattfindet. Es ist noch nicht zu spät.“ Justin Sonder (90) ist einer der Nebenkläger im Verfahren gegen Reinhold Henning, das am Donnerstag in Detmold beginnt. Der in Chemnitz gebürtige deutsche Jude Sonder hat Auschwitz überlebt. 1943, da war Sonder 17 Jahre alt, deportierten die Nazis ihn in das Konzentrations- und Vernichtungslager, wo er eineinhalb Jahre lang bis zur Befreiung als Arbeitssklave schuften musste. Er überstand 17 Selektionen.

Einen Tag vor Beginn des Detmolder Auschwitz-Prozesses stellten sich drei der Nebenkläger, ihre beiden Anwälte und Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz-Komitee der Presse. Die Nebenkläger Erna de Vries, Leon Schwarzbaum und Justin Sonder berichteten über die Qualen und von ihrem Überleben.

Alle drei eint sie, dass sie trotz ihres hohen Alters vor Schulklassen über ihr Leben berichten. Sie wollen auch im Verfahren in Detmold Zeugnis ablegen. Insgesamt sind rund 40 Nebenkläger zu dem Verfahren zugelassen.

Reinhold Hanning ist vor dem Landgericht der Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen angeklagt. Dem heute 94-jährigen Rentner aus dem westfälischen Lage wirft die Staatsanwaltschaft keinen individuellen Mord vor. Als Angehöriger des SS-Totenkopfsturmbanns Auschwitz habe er vielmehr dafür gesorgt, dass die Mordmaschine Auschwitz reibungslos funktionierte. Hanning war einer von mehreren Tausend Mitgliedern dieser Wachmannschaft. Bis heute sind nur wenige Dutzend dieser Männer für ihre Taten von deutschen Gerichten verurteilt worden.

Der Angeklagte streitet Mord ab

Jahrzehntelang kamen mutmaßliche Täter aus NS-Vernichtungslagern in der Bundesrepublik straffrei davon, wenn ihnen kein individueller Mord nachgewiesen werden konnte. „Eines der jämmerlichsten Kapitel in der deutschen Nachkriegsgeschichte“, nannte Rechtsanwalt Heubner „dieses Versäumnis der deutschen Justiz“.

Erst die jüngsten Verfahren gegen John Demjanjuk und Oskar Gröning markierten einen Bruch mit dieser langmütigen Tradition. In beiden Fällen urteilten die Richter, dass schon die Tätigkeit in einem solchen Lager den Tatbestand der Beihilfe zum Mord erfüllt.

Deshalb geriet Hanning ins Visier der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für NS-Verbrechen in Dortmund. Deshalb schrieb Andreas Brendel die Anklage. Deshalb steht Hanning jetzt vor Gericht.

Von Januar 1943 bis zum Juni 1944, so steht es in der Anklage, tat der Angeklagte in Auschwitz Dienst, anschließend arbeitete er im KZ Sachsenhausen. Er selbst hat in Vernehmungen seinen Einsatz zugegeben. An einem Mord allerdings will er nicht beteiligt gewesen sein. Sein Strafregister ist bis heute blütenweiß.

Der gesamte Komplex Auschwitz kommt zur Anklage

Die Anklage verweist darauf, dass die Mitglieder der SS-Totenkopfverbände wie Hanning nicht nur von Türmen aus das Lager bewachten und Fliehende erschossen. Die Männer seien auch bei den Selektionen an der Rampe eingesetzt worden, bei denen Ärzte die nach oft tagelanger Fahrt in Viehwagen geschwächten Juden in „Arbeitsfähige“ und „nicht Arbeitsfähige“ selektierten.

Darüber hinaus verweist die Anklage auch auf regelmäßige Erschießungen von Häftlingen im Stammlager Auschwitz I und auf die unerträglichen Lebensbedingungen in dem gesamten Lagerkomplex, wo die Menschen, wenn sie nicht bei einer der zahllosen Selektionen unter den „Arbeitsfähigen“ in die Gaskammer geschickt wurden, an Hunger und Krankheiten starben.

Nebenklage-Anwalt Cornelius Nestler betonte, dass in Detmold zum ersten Mal in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte der gesamte Komplex Auschwitz zur Anklage kommt. Es gehe um den organisierten Mord in dem ganzen Lager, nicht nur um einzelne Aspekte. Wachmänner wie Hanning hätten dafür gesorgt, dass „diese Vernichtungsfabrik gesichert wurde“, sagte er. Deshalb hätten sie Beihilfe zum Mord geleistet.

Die Schwurgerichtskammer in Detmold hat den Prozess zunächst bis zum Juni diesen Jahres terminiert. Aufgrund des hohen Alters des Angeklagten – er gilt als eingeschränkt verhandlungsfähig – wird nur für jeweils zwei Stunden am Tag verhandelt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Hans Christian Broda war ein Freund unsrer Familie. Damals Justizminister war er der erste, der mir (Empirisches) von KZ-innen erzählte. Später lernte ich die wunderbare und unermüdliche – „Niemals Vergessen!“ & „Wehret den Anfängen!“ – Rosa Jochmann kennen. Und brachte sie in unsre Schule (was den Altnazi-Deutschlehrer wütend das Gebäude verlassen und mir Verreckenswünsche ausrichten liess). Nun sind sie alle von Irden abgetreten. Und was ist aus dem Erinnern des Horrors und dem Nievergessen geworden, im geschichtlichen Moment der allerletzten Prozesse mit Zeugen und Tätern?

    Die Antwort ist akut nebenan. „Schiessen auf Flüchtlinge“ als Politprogramm z.B. Oder im (idem heut in der taz gebrachten) Artikel „Rechtsextremismus in Schweden – Die Polen-Connection“ (Und dabei war auch Marek Edelman, bis zuletzt, ein Pole!) Und wieder herrscht viel Schweigen und Wegschaun, in Europa und den USA, angesichts solcher Neuauflagen.

    Wahrlich, mir ist kein gedächtnis- bzw. rückgratschwächeres Tier bekannt. Als der Mensch.

  • Endlich einmal ein Artikel, der sich nicht nur auf die Beihilfe des kleinen Rädchens in der Tötungsmaschinerie konzentriert, sondern das langjährige Versagen der deutschen Justiz adressiert. Leider allerdings nur unzureichend und oberflächlich. NS-Täter_innen waren jahrzehntelang in hohen Positionen der Politik tätig, Staatsanwaltschaften wollten politisch bedingt die Verbrechen nicht verfolgen und NS-Richter durften in der Bundesrepublik ohne weiteres weiterurteilen.

    Es wäre an der Zeit über Konsequenzen dieses nicht zufälligen Justizversagens nachzudenken. Ein Punkt sind unabhängige Staatsanwaltschaften. Aktuell bestimmen die Justizminister_innen, welche Straftaten überhaupt verfolgt werden. Halten sich Staatsanwält_innen nicht an die politischen Vorgaben, wird ihnen der Fall von der Oberstaatsanwält_in entzogen. Spuren die Oberstaatsanwält_innen nicht, werden sie entlassen. Rechtstaatlich ist das nicht.

    Daneben sollte das Justiz"versagen" Konsequenzen haben. Rechtsbeugung ist strafbar und selbst wenn die Tat verjährt ist, können deshalb noch Richter_innen entlassen oder Pensionen gestrichen werden. Ähnliches gilt für die Strafvereitelung im Amt, die von den Staatsanwaltschaften betrieben wurde und leider immer noch wird.

    So sinnvoll eine juristische Aufarbeitung der Ausschwitzmorde ist, so wenig ist es gerecht, die wenigen kleinen überlebenden Rädchen des Tötungsgetriebes zu bestrafen, während ihre Vorgesetzten nicht nur straffrei blieben, sondern dafür noch in der BRD hohe Pensionen erhielten.

    • @Velofisch:

      ja, aber auch der „1. deutsche antifaschistische staat“ nach 1945 kam nicht ohne die alten führungskräfte aus: z. b. manfred von ardenne, einst mitarbeiter von wernher von braun in der v2-sklavenfabrik kz mittelbau dora, reüssierte nach kurzer su-kriegsgefangenschaft (und forschungs-verwendung) in der ddr.

      in großen blinkenden lettern lesen wir in dresden-weißer hirsch (jetzt wieder nobelquartier):

       

      VON ARDENNE

      http://www.vonardenne.biz/media/public/unternehmensfilm/index.html