Ausblick auf Weihnachten 2022: Diese eigenartigen Zeiten
Der Opel Omikron vom Schwager steht vor der Tür, wir husten uns an und am Tannenbaum hängen alte Schnelltests. Eine liebevoll-dystopische Vision.
Weihnachten 2020 war eine psychosoziale Katastrophe. Weihnachten 2021 wird sich anfühlen wie der zweite Teil von „Alien“ – ebenso heftig wie der erste Film, aber immerhin wissen wir nun, wo das Monster lauert und was es im Schilde führt.
In diesen eigenartigen Zeiten aber macht niemand keine Fehler. Früher oder später werden wir alle wieder miteinander reden und uns, wohl oder übel, folglich auf Weihnachten 2022 wieder freuen können müssen. Und sei es nur auf die altbekannten Monster, uns selbst und die bucklige Verwandtschaft.
Wir werden guten Gewissens mit dem Auto nach Hause fahren, zu den Eltern mit ihrem Obstgarten im Mittelgebirge. Der Zug ginge auch, die Maskenpflicht ist aufgehoben, die Taktung erhöht. Aber der Geschenke sind zu viele, das Auto mit dem geräumigen Kofferraum ist neu, duftet noch nach Grünheide und hat frische Lithium-Ionen-Akkus. Wir werden es unterwegs nur zweimal aufladen müssen.
Das Laden geht schnell. Wenn wir uns dabei nicht gerade zulächeln, erfreuen wir uns am erhebenden Blick auf die endlosen Reihen an Windrädern, die unsere Autobahnen säumen. Zwar ist es windstill, aber die Rotoren drehen sich dennoch. Weil uns inzwischen etwas fehlen würde, drehten sie sich nicht. Angetrieben werden sie halb vom Fahrtwind des Verkehrs, halb vom restlichen Kohlestrom – das war Teil des „Gute-Kompromisse-Gesetzes“.
Last Christmas? Verboten!
Wir sind schon fast am Ziel, da läuft im Radio schon wieder „Halt Dich an Deiner Liebe fest“, ich kann es nicht mehr hören. Du schaltest um, es läuft „Driving Home for Christmas“, da singen sogar die Kinder mit. Uns fällt auf, dass „Last Christmas“ dieses Jahr nirgendwo zu hören war. Niemand will an die letzten beiden Weihnachtsfeste erinnert werden, und so wird Kulturstaatsministerin Claudia Roth das Lied kurzerhand verboten haben.
Im Mittelgebirge liegt überall Schnee. Nicht weil es geschneit hätte, dazu ist es noch viel zu warm. Sondern weil die Hügel im Rahmen des „Frohe-Weihnachten-Gesetzes“ mit Schneekanonen beschossen werden. Die Regierung hat erkannt, wie wichtig es ist, auf die Stimmungen in der Bevölkerung zu achten.
Alles sei, wie es zwar früher nicht war, in der Erinnerung aber gewesen sein könnte. Ein erster Schritt in diese Richtung waren staatliche „Mikrozärtlichkeiten“, von den Schneekanonen über Prämien fürs Richtigparken (Sternchen in Flensburg) bis zu parfümierter Post vom Finanzamt.
Mama kommt uns auf der Treppe entgegen und knuddelt erst die Kinder, bevor wir uns alle anhusten. Das Husten vertreibt die bösen Geister des letzten Jahres. Papa steht in der Tür und ruft: „Da sind sie ja, unsere Leugner!“, und wir lachen herzlich. Längst haben wir vergessen, wer wann welche Fakten leugnete und wer mit wem nicht einmal mehr telefoniert hat. Was in der Vergangenheit passierte, bleibt in der Vergangenheit.
Papa will wissen, warum wir so lange gebraucht haben für die Fahrt. Du erklärst ihm, dass uns das Navi nördlich an Thüringen vorbeigeführt hat, weil die Grenzkontrollen an der A 9 und der A 71 zu lange gedauert hätte. Wir haben dafür Verständnis und gelernt, auch solche politischen Entscheidungen zu tolerieren, an denen wir nichts ändern können. Besser Separatismus als Spaltung, da sind wir uns einig und wünschen den neuen Machthabern in Thüringen alles Gute.
Die Schwester und der Schwager sind auch schon da, wir erkennen es an ihrem Opel Omikron in der Auffahrt. Seit das Automobil an Bedeutung verliert, greifen die Hersteller zu ironischen Typbezeichnungen. Der Schwager hatte eigentlich einen hyperhybriden Toyota Triage kaufen wollen, der allein vom guten Gewissen seines Fahrers angetrieben wird. Den Namen aber fand die Schwester dann doch daneben.
Sie arbeitet in einem Altenheim mit angeschlossenem Sanatorium und stand deshalb lange unter Stress. Jetzt steht sie in ihrem schlichten Schwarzen von Dior in der Küche und würzt die Weihnachtsgans, die Brille von Gucci in die Haare geschoben.
Es tut ihr sichtlich gut, dass der Staat nun weniger in die Prävention und mehr in die Pflege investiert. „Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts“, sagt sie und zieht ihre FFP2-Maske von Glööckler ganz keck unter die Nase. Nötig ist die Maske im Grunde gar nicht mehr, wie sogar Lothar Wieler einräumen musste („Macht doch, was ihr wollt!“). Die Schwester trägt sie nur als modisches Statement.
Die Phi-Variante aus Venezuela war wie die Sigma-Variante aus Kanada, also noch ansteckender als die gute alte Omikron-Variante aus Südafrika, aber nicht so tückisch wie die Chi-Variante aus Sachsen, die sich zur Überraschung seriöser Expertinnen tatsächlich mit einem Entwurmungsmittel für Pferde behandeln ließ.
Die aktuelle Psi-Variante aus Liberia hingegen ist kaum infektiös, angeblich mit Ebola verwandt, was manche Fachleute (für Rassismus) für rassistisch halten, andere Fachleute (für Tropenmedizin) aber nur ein müdes Schulterzucken entlockte. Laien allerdings waren über die Symptome einigermaßen beunruhigt. Infizierte haben zunächst leichtes Fieber, bluten dann aus den Augen, lallen Wirres und fallen endlich auf der Straße tot um.
Dieser für mitteleuropäische Verhältnisse eher drastische Anblick hatte im Herbst 2022 die Impfskeptiker dann doch skeptisch werden lassen, zugleich aber auch die Impfbereitschaft von Befürwortern gedämpft. Denn mit Fruit Dragees von Mentos lässt sich eine Infektion mit Psi auch ganz gut vermeiden. Mama meint, der Graben quer durch unsere Gesellschaft habe sich mit Süßigkeiten gefüllt. Deshalb stehen die Bonbons auch in der alten Porzellanschale von Oma Hildegard im Wohnzimmer immer bereit.
Die Tanne ist neben den Christbaumkugeln mit alten Schnelltests geschmückt, die sehen aus wie kleine Eiszapfen. „Alter Falter!“, sagt der Schwager, obwohl er genau weiß, wie ich diese Formulierung hasse. „Früher war mehr Lametta“, sagt die Schwester, aber der Witz ist irgendwie unpassend. War früher nicht gar kein Weihnachten?
Der Berg mit den Geschenken ist eher ein Gebirge, so lange haben wir uns schon nicht gesehen. Gesungen werden die alten Lieder, und Papa singt absichtlich falsch. Die Kinder packen ihre Geschenke aus und weinen ein wenig, weil sie im kommenden Jahr wieder „unter die Leute müssen“. Ein Leben ohne Corona, das sind sie nicht mehr gewohnt.
Der Papa macht sich über die Reste des Gänsebratens her, während Mama den Eierlikör aus dem Keller holt. Du machst einen Witz über Streptokokken, über den außer mir niemand lacht. Nicht einmal aus Höflichkeit. Die Kinder quengeln und wollen nicht ins Bett. Die Kleine hatte zu viele Kekse und übergibt sich auf den Teppich. Der Schwager sagt: „Alter Falter!“ und probiert seine neue E-Zigarette aus. Mama wedelt den Dampf weg, aber das beachtet er gar nicht.
Ich hatte zu viel Eierlikör, mal wieder, und rede über Politik. Das sollte ich nicht tun. Ich schimpfe über die FDP, wegen der im Sommer die Ampel zerbrochen ist. „Bei der Impfpflicht hätten die Grünen aber auch nachgeben können“, gibt Papa zu bedenken. „Der Lindner hat aber die Haare schön“, wirft Mama ein. Ich beschimpfe beide als ignorante Liberalfaschisten, die doch nach Thüringen gehen sollen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Du legst mir unterm Tisch die Hand auf das Bein und sagst, ich soll jetzt besser nichts mehr sagen. Da meint der Schwager, die Kleine hätte gekotzt, „weil ihr von den Windrädern an der Autobahn schlecht geworden ist“. Ich balle die Fäuste und gehe ins Bad, um mein Gesicht mit Wasser zu kühlen. Es nützt nichts, der Frust bleibt. Wie auch diese Zornfalte zwischen den Augenbrauen. Meine besten Jahre sind verstrichen, und ich bin darüber nichts geworden – nur alt.
Ich atme tief durch und gehe zurück ins Wohnzimmer. Die Familie hat sich vor dem Fernseher versammelt, wo gerade eine kritische Komödie von Til Schweiger („Willkommen bei den Sch’tikos“) zu Ende gegangen ist. Jetzt hält Bundeskanzler Friedrich Merz seine Weihnachtsansprache, die macht er einfach selbst, dem Bundespräsidenten vertraut er nicht. Um des lieben Friedens willen verkneife ich mir eine Bemerkung über die groteske Haarinsel mitten auf seiner Glatze, die auch immer kleiner wird.
Merz redet über Wellen und Gemeinsinn, erinnert an schlimme Zeiten und den eigentümlichen Burgfrieden, den wir miteinander und mit der „Kontinuität der Katastrophe“ geschlossen haben.
Die sei nur noch ein „Katastrophlein“, ein „Kataströphchen“, sagt er und lächelt zum Abschluss mikrozärtlich: „Die Lage ist nicht mehr ernst. Nehmen Sie sie auch nicht mehr ernst!“.
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