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Ausbeutung bei LieferdienstenDie falsche Freiheit

Gastkommentar von Yannick Haan

Digitale Lieferdienste stehen für ein Arbeitsprinzip, das sich immer mehr ausbreitet. Die Auftragsvergabe durch Algorithmen macht die Menschen einsam.

Gehetzt vom Algorithmus: Fahrradkurier unterwegs Foto: dpa

D ieser Text muss mit einem Eingeständnis beginnen: Die Missstände, die ich beklage, wurden auch durch mich herbeigeführt. Ich war bislang nicht Teil der Lösung, sondern eher des Problems: Lieferdienste für Essen oder Lebensmittellieferungen innerhalb von zehn Minuten – Apps, die mir diese Dienste ermöglichen, sind auch auf meinem Handy installiert. Wenn ich Sonntagabend auf dem Sofa liege und zu faul zum Kochen bin, bestelle ich schon mal Essen. Statt noch mal zum Supermarkt zu gehen, lasse ich mir die Lebensmittel liefern.

Damit bin ich in meiner Generation nicht allein. Wir sind es gewöhnt, eine Vielzahl an digitalen Dienstleistungen rund um die Uhr zur Verfügung zu haben. Nur die wenigsten fragen sich dabei, was das eigentlich mit unserer Gesellschaft macht.

In letzter Zeit wurde oft über die schlechten Arbeitsbedingungen der Ku­rier­fah­re­r*in­nen diskutiert. Beim Lebensmittellieferdienst Gorillas streiken die Fah­re­r*in­nen mittlerweile fast täglich. Der Versuch der Gründung eines Betriebsrats wurde von der Geschäftsführung torpediert. Ein Schema, das man bereits von anderen digitalen Unternehmen kennt: Ar­beit­neh­me­r*in­nen­rech­te werden dort möglichst schnell und effektiv bekämpft.

Doch hinter diesen Konflikten steckt mehr als nur der klassische Arbeitskampf: Es geht um ein neues Prinzip des Wirtschaftens. Die schlechte Behandlung der Ar­beit­neh­me­r*in­nen ist nicht der singuläre Ausfall einer Geschäftsführung. Es ist ein neues digitales Arbeitssystem, das hier installiert wird und das sich auf immer neue Bereiche der Wirtschaft ausdehnen wird, wenn wir nicht schnell reagieren.

Bewusst herbeigeführte Einsamkeit

Nun ist die Ausbeutung der Ar­beit­neh­me­r*in­nen kein neues Phänomen. Sie ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Heute haben sich allerdings einige Grundpfeiler verschoben. Im digitalen Kapitalismus sind der Markt und das Unternehmen oft identisch. Nehmen wir etwa Amazon: Hier werden die Kun­d*in­nen systematisch an proprietäre Märkte gebunden. Während es im Fordismus um die effiziente Nutzung von Arbeitskraft ging, geht es in der digitalen Wirtschaft darum, selbst der Markt zu sein.

Bild: Marcel Maffei
Yannick Haan

ist Digitalpolitiker, Mitglied in der netz- und medienpolitischen Kommission beim SPD-Parteivorstand und Co-Vorsitzender der SPD Berlin-Mitte.

Das erklärt auch die unfassbaren Summen, die diesen jungen Unternehmen zur Verfügung stehen. Gorillas wurde zuletzt mit über einer Milliarde Euro bewertet. Entsteht ein neuer Markt, wird dort viel Geld hinein gepumpt, damit das Unternehmen sehr schnell selbst zum Markt wird. Aggressivität lässt dabei den Shareholder Value steigen. Frei nach dem früheren Facebook- Motto: „Beweg dich schnell und mach Sachen kaputt“.

Doch im Digitalen haben sich auch die Arbeitsbedingungen verändert. Die Lieferdienste bieten erstmals vollständig per Algorithmus gesteuerte Jobs an. Die Fah­re­r*in­nen melden sich in der App an, der Algorithmus erteilt die Aufträge – die Entmenschlichung der Arbeitswelt. Während auf den Werbeprospekten mit Worten wie „Team“ und „Community“ geworben wird, bieten diese Unternehmen vor allem eins: Einsamkeit.

Eine Einsamkeit, die sehr bewusst herbeigeführt wird. Alles, was Gemeinsamkeit schafft, alles, wo Menschen zusammenkommen, erzeugt Reibung. Und Reibung ist Sand im Getriebe der digitalen Lieferdienste. Konzerne versuchen so, eine in Gänze singularisierte Arbeitsumgebung zu schaffen. Ein Mitspracherecht gibt es in diesem System nicht mehr – mit Algorithmen lässt sich auch schwer diskutieren. Nichts stört die Effektivität und den Gewinn des Unternehmens.

Soziale Marktwirtschaft geht anders

Die Steuerung von Ar­beit­neh­me­r:in­nen per Algorithmus ist ein Prinzip, das sich immer tiefer in unsere Arbeitswelt einschleicht; die Lieferdienste sind nur die Speerspitze dieser neuen Bewegung. Viele Bank­be­ra­te­r*in­nen füttern den Algorithmus nur noch mit Daten. Selbst die Polizei wird in einigen Ländern mittlerweile vom Algorithmus gesteuert, indem dieser sagt, wo in der Stadt es sich lohnt, hinzufahren.

Am Beispiel der Lieferdienste lässt sich noch eine zweite bedenkliche Entwicklung beobachten: Wir rutschen ins Zeitalter des überwachungs- und bewertungsgetriebenen Arbeitens. Die Ku­rier­fah­re­r*in­nen sind während ihrer Arbeit dauerhaft überwacht. Es wird mitgeschnitten, wo sie hinfahren, wie ihre Kommunikation abläuft, es wird Buch darüber geführt, wie viele Auslieferungen geschafft werden.

Am Ende bewertet die Kundschaft die Leistung. Ist man mal unfreundlich, steckt man im Stau oder bringt kaltes Essen, gibt es eine negative Bewertung. Dabei ist die Bewertungslogik besonders perfide: Kun­d*in­nen haben alle Rechte, die Lie­fe­ran­t*in­nen keine. Wenn die Leistung nicht mehr stimmt, ist der/die Einzelne schnell austauschbar – auch für die sogenannte Community.

Was uns als große „Freiheit“ verkauft wird, ist in Wirklichkeit das genaue Gegenteil. Hinter Werbe-Versprechen wie dem einer zwanglosen Community steckt vor allem die Ablehnung staatlicher Regulierung: Der Vorrang der Ökonomie vor der Politik. Es ist eine spätkapitalistisch-digitale Traumwelt, die immer weiter fortschreitet. Doch wollen wir Freiheit wirklich so für uns definieren?

Es wird Zeit, dass wir uns als Gesellschaft gegen diese Prinzipien wehren. Wenn wir uns vom blendenden Freiheitsversprechen lösen, ist eine politische Regulierung auch möglich. In Spanien müssen die Unternehmen beispielsweise den Gewerkschaften den Code für die Algorithmen zur Verfügung stellen, um mehr Transparenz für die Kuriere zu schaffen. Wir brauchen auch Verpflichtungen der Unternehmen auf feste Ansprechpersonen. Wir müssen Genossenschaftsmodelle fördern, in denen Fah­re­r*in­nen sich selbst organisieren. Und wir müssen der permanenten Überwachung klare Grenzen setzen.

Wenn wir diese Schritte jetzt nicht gehen, dann etablieren wir ein Prinzip in unserer Wirtschaft, das mit einer sozialen Marktwirtschaft nur noch wenig zu tun hat.

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15 Kommentare

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  • es ist die neue spießigkeit ...

    von denen gelebt, die -wohl wahr- zu faul sind, ihr sofa zu verlassen und sich ihren krimskrams umme ecke selbst zu beschaffen.

    egal, ob futter oder ein wollpulli.

    hippe spießigkeit, die andere wiederum verführt, dafür ein trinkgeld zu ergattern.

    und so nutzt es dem, der als mittler auftritt.



    und der kennt nur ein ziel:



    das ganz große geld.

  • Alte Ferengi-Erwerbsregel: "Freiheit ist gut, Latinum ist besser!"

  • Es soll Menschen geben, die nie bei Gorillas, Deliveroo & Co. arbeiten würden. Sehr guter taz-Artikel, hoffentlich lesen ihn die Rider: "Plattformökonomie" was für ein Scheissdreck!



    Das Gorillas-Bewerbungsformular im Internet mit der zentalen Frage: "Warum Gorillas (...) Ihre liebe für's Fahrradfahren" Wie zynisch.



    gorillas.io/de/fahrer-werden

  • " . . . dann etablieren wir ein Prinzip in unserer Wirtschaft, das mit einer sozialen Marktwirtschaft nur noch wenig zu tun hat."

    Die soziale Marktwirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten immer weiter zerstört worden. Frau Wagenknecht beschreibt das ausgezeichnet in ihrem neuen Buch.

    Vielen Dank für diesen sehr guten Artikel.

    Die taz könnte sozioökonomische Themen weiter ausbauen. Deutschland ist mittlerweile für Millionen Menschen ein hartes Ausbeuterland.

  • Das Beschriebene ist bedauerlich, aber leider nicht die einzige "Baustelle" dieser Art. Ich kann es drehen und wenden wie ich will (oder nicht will), die Einzigen, denen ich glaube, dass sie eine faire Transformation der Arbeitswelt wollen, sind DieLinke.

  • Das Beste ist aber: Das Freiheitsversprechen an sich müssen wir gar nicht aufgeben. Wir müssen lediglich unser Verständnis von Freiheit überdenken: Es geht um GLEICHE Freiheit für alle.

    Ausbeuter*innen und Ausgebeutete genießen nicht das gleiche Maß an Freiheit; das ist offensichtlich. Wenn wir aber über gleiche Freiheit nachdenken, dann lässt sich Regulierung mit Freiheit durchaus zusammendenken.

    Dann ist es nämlich Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit alle das gleiche Maß an Freiheit genießen können. Das schließt gerechtes Teilen von Geld und anderen Ressourcen mit ein.

    @Schwarzwaldtib: Moral alleine reicht nicht aus, um eine gerechte Welt zu schaffen. Oder handeln Sie wirklich IMMER entsprechend des Kategorischen Imperativs?

    Wir brauchen Gesetze und Regulierung, weil es eben auch viele Leute gibt, die sich ohne Zwang nicht an Regeln der Fairness halten. Und wenn Lieferdienste gerechte Arbeitsbedingungen sicherstellen müssen, werden sie auch ihre Preise entsprechend erhöhen.

  • Der ganze Text ist doch ein schlechter Scherz, wenn man sich den ersten Absatz verinnerlicht. Wer meint, Sonntag Abends für wenige Euro Essen bestellen zu müssen, ist das Problem. Nicht das Unternehmen, das die Lösung bietet und auch kein Regulierer.



    Kocht euch das Essen selbst, geht in ein vernünftiges Restaurant oder kauft rechtzeitig ein. Aber beutet nicht aus Bequemlichkeit Andere aus.

    • @schwarzwaldtib:

      Keine Veränderungen in Wirtschaft und Politik. Das Individuum muss sich läutern und die Sache richten. Glauben Sie ernsthaft, nur ein kleines bißchen, dass damit was zu rocken ist? Oder reicht’s aus, die Schuldigen zu finden, Veränderungen eh illusorisch?

  • 0G
    05989 (Profil gelöscht)

    Selbst die USA haben griffigere Regulierungen für den freien Markt. In Deutschland gelten die Prinzipien des Kaiserreichs: Freiheit genießen die, die sich durch Herkunft oder wahlweise Geld qualifizieren.

    Bevor etwa in Deutschland eine Pflicht zur Offenlegung von Algorithmen etabliert wird, friert die Hölle zu!

    Ich habe wirkliche jede Illusion verloren, dass sich da etwa zum Besseren wendet.

  • Vielen Dank für diesen wichtigen und richtigen Beitrag.

  • Vielen Dank für diesen Artikel. Ich möchte dieses Thema unbedingt in den Parteiprogrammen der nächsten Bundestagswahl sehen. Das Thema Digitalisierung wird oft als versprechen in die Zukunft gesehen. Kaum eine Partei spricht die Ausbeutung, Überwachung, Singularität und Einsamkeit der Digitalisierung ab. Rechte für die 200 Jahre gekämpft wurde zerfallen zu Staub. Und das sind keine klassischen Linken Themen, das ist die klare Richtung und die Politik muss hier gegensteuern. Welche Partei möchte das mit aufnehmen und durchsetzen? Freiwillige vor!

  • Stimmt, es wird viel von einer besseren Welt geredet, alles progressiv und inklusiv und diskriminierungssensibel. Und dann massen an Lieferdiensten mit einer Masse an prekären Jobs - mal von Studenten gemacht, ok, aber dem Eindruck nach meist von Migranten und anderen billigen Arbeitskräften. War das nicht irgendwie das, gegen das man politisch vorgehen wollte? In einer bestimmten Ecke ganz sensibel zu sein, um dann in anderen Ecken umso unbekümmerter den maximalen kurzfristigen Vorteil zu leben: passt das zusammen?

  • Ich Frage mich immer, woher die Leute eigentlich kommen, die solche Arbeit machen, während anderswo (z. B im sozialen Bereich) händeringend Leute gesucht werden für Jobs, die sicher ich nicht ideal sind, aber mir zumindest besser erscheinen. Mittelfristig dürfte die Arbeit von Lieferservicen von Robotern erledigt werden, damit ist diese Art von Ausbeutung nur ein vorübergehendes Phänomen.

    • @Ruediger:

      Vollautomatische Auslieferung ist der Plan ... die menschlichen "Rider" sind nur vorübergehend noch nötig.

      Von einem anderen total-digital-gesteuertem Unternehmen ist z.B. bekannt, daß, wenn der Fahrer anmeldet, daß er mal auf die Toilette müßte, der Algorithmusdas das "ablehnt" - weil es wichtiger ist, den Auftrag auszuliefern.



      Ich selbst war mal in nem Fahrdienst mit Totalüberwachung durch GPS - am Ende des Monats kam eine sehr lange Liste der Überwachung. "Gehen Sie die durch und erklären Sie alle mit einem Kreuzchen markierten Stellen, denn diese Zeiten werden Ihnen sonst vom gehalt abgezogen!" "



      Ich sass dann tatsächlich 3-4 h (in meiner Freizeit) da und arbeitete die Liste durch: Etwa 800 ein-bis zweiminütige registrierte "Arbeitsunterbrechungen" durch die automatische Motorabschaltung des Fahrzeugs an roten Ampeln, etc. - erklär mal einer einem Algorithmus, daß man an einer roten Ampel NICHT fahren kann.

    • @Ruediger:

      nennt sich das 'Präkarisierung'? Masters&Servants - oder: Feudalismus ist längst wieder hip!