Ausbau des Nahverkehrs im Norden: Verkehrswende ausgebremst
Mehr Bahnstrecken in Schleswig-Holstein sollen die Mobilitätswende vorantreiben. Aber Geesthacht wartet trotzdem weiter auf einen Schienenanschluss.
Rendsburg taz | Im „Landesweiten Nahverkehrsplan“ beschreibt das Kieler Wirtschafts- und Verkehrsministerium, wie die Mobilitätswende klappen soll. Der Plan sei eine „wichtige Weichenstellung für den Bahnverkehr“, kalauerte das Ministerium in einer Pressemitteilung. Der Fahrgastverband Pro Bahn und der Verkehrsclub Deutschland sind skeptisch, und in Geesthacht regt sich Unmut: Die Stadt mit über 30.000 Einwohner*innen wartet vergeblich auf eine Anbindung ans Schienennetz.
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„Geesthacht ist derzeit die größte Stadt Schleswig-Holsteins ohne Bahnanschluss. Eine reaktivierte Schienenstrecke nach Geesthacht würde mit über 7.000 Fahrgästen pro Tag sofort zu einer der am stärksten genutzten Strecken Schleswig-Holsteins werden“, sagte der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Geesthachter Rathaus, Ali Demirhan. Er verweist auf ein Gutachten zur „Optimierung des Schienenverkehrs“, das im März im Verkehrsausschuss des Kieler Landtags beraten wurde. Dort wird die Anbindung von Geesthacht nach Hamburg-Bergedorf empfohlen – im fertigen Nahverkehrsplan hat sie aber keine Priorität erhalten.
Geld gibt es dafür für vergleichsweise kleine Projekte wie die 2,8 Kilometer lange Verbindung von der Kleinstadt Kellinghusen ins noch kleinere Wrist, durch das eine Bahntrasse führt. Die Reaktivierung der Strecke, die früher von Wrist in die Kreisstadt Itzehoe führte, soll unter anderem Pendler*innen nach Hamburg das Bahnfahren schmackhaft machen und den heute oft überfüllten Park+Ride-Platz in Wrist entlasten. „Ein hocheffizientes Projekt, das mit geringem Mehraufwand größere Kundenpotenziale erschließen kann“, so die Hoffnung des Nahverkehrsplans.
Das Projekt sollte laut einem Gutachten im Jahr 2012 rund 6,5 Millionen Euro kosten. Inzwischen geht es um rund 15 Millionen Euro, von denen 13,5 Millionen der Bund zahlt. Erreicht werden damit laut Prognosen nur einige Hundert Fahrgäste am Tag.
Helene Wahl, Mitglied im Landesvorstand des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), will keine Strecken gegeneinander aufwiegen: „Aus unserer Sicht ist jede Maßnahme wichtig.“ Aber eben das sei das Problem: „Wenn man bis 2035 die Verkehrswende erreicht haben will, um den Klimawandel zu stoppen und das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, bräuchte es jede dieser Maßnahmen sofort.“ Es müsste „vom Klima her gedacht werden, nicht von der Finanzierung her“.
Ähnlich sieht es Karl-Peter Naumann, Sprecher von „Pro Bahn“ in Schleswig-Holstein: „Es stehen ja gute Sachen in dem Plan drin, aber damit erreicht man keine Verkehrswende.“ Es fehle der große Wurf, die ambitionierte Idee. „Statt Neubauten werden vorhandene Strukturen fortgeschrieben. Und immer noch wird auf das Auto gesetzt.“ Er hielte es für sinnvoll, viele kleinere Strecken im Flächenland auszubauen: „So erreicht man unterm Strich mehr Menschen.“
Ehrgeizig reicht nicht
Bis 2027 will das Land unter anderem 20 Prozent mehr Passagier*innen als im Vor-Corona-Jahr 2019 in die Züge bringen, die dann ausschließlich mit grünem Strom aus Schleswig-Holstein fahren sollen, und alle Stationen barrierefrei gestalten. Es soll mehr Werkstattkapazitäten und Fahrzeugreserven geben, um bei einem Ausfall Züge schneller wieder aufs Gleis zu bringen.
Zu den Großprojekten gehören der Ausbau der S4, die ab 2029 Bad Oldesloe mit Hamburg verbinden und ab 2030 in westlicher Richtung verlängert werden soll. Allein für das Projekt „S4 West“, die dann von Hamburg-Altona nach Elmshorn fahren soll, sind 500 Millionen Euro veranschlagt, von denen das Land 125 Millionen tragen muss. „Ehrgeizige Ziele“, lobt Buchholz den eigenen Plan.
Eben nicht, findet Helene Wahl: „Angesichts des engen Zeithorizonts reicht es nicht, wenn sich die Politik auf die Schultern klopft, wenn einige Strecken erneuert oder neu eröffnet werden.“ Denn selbst wenn die Baumaßnahmen alle fristgemäß klappten, „braucht es auch Zeit, die Menschen davon zu überzeugen, vom Auto in die Bahn umzusteigen“.
„Wenn man bis 2035 die Verkehrswende erreicht haben will, bräuchte es jede dieser Maßnahmen sofort“
Dass die Menschen in Geesthacht schnell ihren Bahnanschluss bekommen, bezweifeln beide Bahnexpert*innen: „Von einer Verbindung nach Hamburg-Bergedorf würden nur die profitieren, die dorthin zum Arbeiten oder Einkaufen wollen“, sagt Naumann. „Wichtiger wäre eine Verbindung nach Hamburg-Hauptbahnhof. Aber das ist schwierig.“ Wie schwierig, beschreibt der Nahverkehrsplan: So müsste in Hamburg eine „Neubautrasse im Straßenraum“ gebaut und im Hauptbahnhof Platz geschaffen werden. Der Zeithorizont der Umsetzung sei „offen“, die Finanzierung nicht gesichert. Immerhin liegen noch Gleise zwischen Geesthacht und Bergedorf. Auf ihnen fährt manchmal am Wochenende die Dampflok „Karoline“.
Ab Juli beginnt das Beteiligungsverfahren über den Plan, im Oktober soll er vom Kabinett beschlossen und dem Landtag vorgelegt werden.