Aus historischen Kompromissen lernen: Kein Friede unter den Oliven
Von der italienischen Geschichte zu Deutschlands Gegenwart: Was wir aus einem gescheiterten historischen Kompromiss lernen können.
W ahrlich, finstere Zeiten brechen herein. Und mit Brecht müsste man seufzen: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“
Ich sitze gern unter einem Olivenbaum. Wir haben ein Dutzend alter Olivenbäume. Wobei unter „haben“ eher etwas zu verstehen ist wie Nachbarn haben als eine Besitzanzeige. Denn wie sollte man ein lebendes Wesen besitzen, das älter ist als die ältesten Bilder aus deiner Familiengeschichte? Unter diesen Oliven, sagt man, habe einst Napoleon gesessen. Wenn Napoleon unter allen Bäumen gesessen hätte, von denen man so etwas erzählt, hätte er wahrscheinlich vor lauter Unter-Bäumen-Sitzen gar keine Zeit mehr zum Kriegführen gehabt.
Aber so weit geht die Macht der Oliven nicht. Näher, schrecklich näher ist die Erinnerung an Partisanen, die sich hier im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs verbargen und die verraten und von Schwarzhemden und deutschen Soldaten ermordet wurden. Es gibt ein Denkmal ihnen zu Ehren, aber nicht weit davon entfernt auch eines für die Soldaten des faschistischen Staates.
Ist solch ein Nebeneinander ein bizarres Überbleibsel des „historischen Kompromisses“? Der Partito Comunista Italiano (PCI) unter Enrico Berlinguer verzichtete 1973 auf einen radikalen Widerspruch zum Kapitalismus und bekannte sich zur Demokratie und zur gemeinsamen Arbeit an Reformen mit den anderen Parteien, auch und gerade der Democrazia Christiana unter Aldo Moro.
PCI nur noch Erinnerung
Doch statt der erhofften reformerisch-liberalen und sozialen neuen Mitte und eines gemeinsamen Projekts der versöhnten pluralen Demokratie folgten Chaos und Gewalt diesem Ansatz, die Ermordung Aldo Moros, der Aufstieg der Neofaschisten, eine politische Traumatisierung. Der PCI ist heute nur noch eine Erinnerung, die DC allerdings auch. Und ebenso das Projekt, das eine Spaltung der Gesellschaft überwinden wollte, die aus der Geschichte des Landes wie aus der Ökonomie der Gegenwart stammte.
War der historische Kompromiss etwa ein Fehler? Oder war er, andersherum, nur der Versuch, sich als linkes politisches Subjekt zu bewahren in einem Prozess, der ohnehin nicht aufzuhalten war? Die Verwandlung einer einst „revolutionären“ Organisation mit einer ganz eigenen politischen Kultur in eine reformerische, eher sozialdemokratische Partei, die in den Mainstream-Medien und -Diskursen aufging, führte jedenfalls zugleich zur Abspaltung einer verzweifelt militanten Linken (und von der wiederum ein terroristischer Untergrund) und zum Erstarken einer rechten und rechtsextremen Opposition, die aus der Abwehr ebendieser reformerisch-demokratischen Allianz entstand, von der zu befürchten war, dass sie der Wirtschaft und der Gesellschaft ein soziales Gewissen abverlangen würde.
So war der historische Kompromiss als bewusstes und transparentes Projekt wahrhaft blutig gescheitert; in den Biografien, den Strukturen, den Szenen allerdings vollzog sich die Auflösung der traditionellen Linken in der demokratischen Mitte immer weiter, und zwar nicht nur im Süden, sondern nach und nach in ganz Europa. Wo sich einst linke und bürgerlich-konservative Kräfte unversöhnlich gegenüberstanden, entstand eine demokratische Grunderzählung. Oder sie hätte wenigstens entstehen sollen.
Warum aus dem historischen Kompromiss einer kapitalistischen Demokratie mit sozialem Gewissen und einem gemeinschaftlichen Projekt der linken und der bürgerlichen Demokratie nichts wurde, dafür gibt es gewiss zahlreiche Ursachen, und manche von ihnen reichen so tief in die Geschichte wie die Wurzeln der Oliven ins Erdreich. Eine davon wird gerade in Deutschland sichtbar: die Verweigerung der bürgerlichen Rechten.
Bürgerliche Rechte schreckt zurück
Dabei geht es ebenso um eine Partei, „Die Linke“, die geradezu vorbildhaft alle Voraussetzungen des historischen Kompromisses erfüllt, und der die mehr oder weniger christliche Demokratie dennoch (oder vielleicht gerade deswegen?) die Zusammenarbeit verweigert, wie um die postmarxistischen, linksliberalen Diskurse und Kritiken, die in den öffentlichen Auseinandersetzungen einfach keine Rolle mehr spielen. Ein großer Teil der bürgerlichen Rechten schreckt vor dem historischen Kompromiss so sehr zurück, dass man sich eher mit der demokratiefeindlichen Rechten als mit der demokratischen Linken verbündet.
Aber erinnern wir uns: Das Scheitern des historischen Kompromisses führte nicht nur zur Auflösung des PCI, sondern auch zum Absturz der DC, und ebendies vollzieht sich gerade in Deutschland, wenngleich natürlich auf eine ganz eigene Weise. Die Unfähigkeit der „bürgerlichen Rechten“ zu einer breiten demokratischen Allianz und zu einem historischen Kompromiss zwischen rechter Beharrung und linker Kritik zersetzt schließlich auch die eigene Organisation und den eigenen Diskurs. Und zersetzt die Demokratie.
Eine lange Geschichte mit alten Wurzeln; unter Oliven, so scheint’s, kann man nicht geschichtslos sitzen, nicht absehen von den Taten und Untaten der Menschen. Oliven sind Kulturpflanzen, das heißt, sie sind den Umgang mit Menschen gewöhnt, und vielleicht haben sie auch ein Gedächtnis dafür.
Mag sein, es ist ihre Individualität, die Olivenbäume für viele Menschen zum Synonym für etwas Heimatliches macht. Geschichten vom Verlust der Heimat, aus Sizilien, aus Griechenland, aus Palästina, aus dem ehemaligen Jugoslawien, handeln oft vom Verlust solcher Bäume und der Möglichkeit/Unmöglichkeit einer Rückkehr zu ihnen. Sie sehen aus, als wären sie voller Geschichten, schöner und schrecklicher. Und beim Gespräch über sie mag man daran denken, dass man nichts vergessen, aber auch die Hoffnung nicht zu früh aufgeben soll. Auch wenn es wieder einmal gründlich verpfuscht ist, was der Brecht für die Nachgeborenen, also uns, beim Gespräch über Bäume erhoffte: Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sei.
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