Aus Le Monde diplomatique: Von Tier zu Mensch

Viele Krankheitserreger stammen von Wildtieren. Bei der Übertragung auf den Menschen spielt die Zerstörung von Lebensräumen eine zentrale Rolle.

Käfige mit Fledermäusen werden von Männern mit Mundschutz inspiziert

Beamte der Gesundheitsbehörde auf einem Markt in Surakata, Indonesien Foto: AP

Könnte es ein Schuppentier sein? Eine Fledermaus? Oder womöglich eine Schlange? Der Wettlauf ist eröffnet, wer als Erster das Wildtier identifizieren wird, von dem das Coronavirus stammt, offiziell als Sars-CoV-2 bezeichnet.

Infolge des Virus, das die als Covid-19 bezeichnete Erkrankung auslöst, wurden in China und anderen Ländern viele Millionen Menschen unter Quarantäne gestellt oder in Sperrzonen von der Umwelt abgeschottet. Natürlich ist es wichtig, das Rätsel der Herkunft zu lösen. Noch viel wichtiger ist allerdings, zu erkennen, dass unsere zunehmende Verwundbarkeit durch Pandemien eine tiefere Ursache hat: die immer raschere Zerstörung von Lebensräumen.

Seit 1940 sind hunderte krankmachende Erreger in Regionen neu aufgetaucht oder wieder aufgetaucht, wo manche von ihnen nie zuvor beobachtet wurden. Das gilt für HIV, für Ebola in Westafrika, für das Zikavirus auf dem amerikanischen Kontinent und eine Vielzahl neuer Coronaviren. Die Mehrheit dieser Erreger (60 Prozent) sind tierischen Ursprungs. Einige stammen von Haustieren oder Nutztieren, aber die meisten (mehr als zwei Drittel) von Wildtieren.

Die Tiere können nichts dafür. Obwohl immer wieder Wildtiere als Ursprung zerstörerischer Epidemien dargestellt werden, ist die Annahme falsch, sie seien besonders häufig mit todbringenden Erregern infiziert, die jederzeit auf Menschen überspringen können. Tatsächlich lebt der größte Teil der Mikroben in den Wildtieren, ohne ihnen im Geringsten zu schaden. Das Problem liegt woanders: Durch die immer massivere Abholzung der Wälder und die wachsende Urbanisierung haben wir diesen Mikroben Wege eröffnet, den menschlichen Körper zu erreichen und sich entsprechend anzupassen.

Zahlreichen Heilpflanzen und Tieren droht die Ausrottung

Durch die Zerstörung der Lebensräume droht zahlreichen Arten die Aus­rot­tung, darunter auch Heilpflanzen und Tieren, die in unseren Arzneibüchern seit jeher ihren Platz haben. Den überlebenden Arten bleibt nichts anderes übrig, als sich in die reduzierten Lebensräume zurückzuziehen, die ihnen die menschlichen Siedlungen übrig lassen. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie in engen Kontakt mit Menschen kommen, und so können Mikroben, von denen sie besiedelt sind, in unsere Körper gelangen, wo sie sich möglicherweise in tödliche Krankheitserreger verwandeln.

Ebola ist ein gutes Beispiel dafür. Als Ursprung des Virus wurden verschiedene Fledermausarten identifiziert. Eine 2017 durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, dass Ausbrüche des Virus häufiger in solchen Gebieten Zentral- und Westafrikas vorkamen, in denen kurz zuvor Wälder in großem Stil gerodet worden waren. Wenn man die Bäume der Fledermäuse fällt, zwingt man sie, auf Bäume in unseren Gärten und auf unseren Farmen auszuweichen.

Wie es dann weitergeht, ist leicht vorstellbar: Ein Mensch beißt in eine Frucht, die von Fledermausspeichel bedeckt ist. Oder jemand tötet eine Fledermaus, die in sein Haus geflogen ist, und kommt dabei mit dem Erreger in Kontakt. So springen viele Viren, die für die Fledermäuse harmlos sind, auf menschliche Populationen über – neben dem Ebola- auch das Nipah-Virus (vorwiegend in Malaysia und Bangladesch) und das Marburg-Virus (in Ostafrika).

Wenn dieses „Überschreiten der Artengrenze“ häufiger geschieht, besteht die Möglichkeit, dass sich die Mikroben aus tierischen Organismen an den Menschen anpassen und so weiterentwickeln, dass sie zu Krankheitserregern werden.

Abholzung begünstigt Epidemien

Auch bei Krankheiten, die von Mücken übertragen werden, wurde ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Epidemien und Abholzung festgestellt – mit dem Unterschied, dass es hier weniger um den Verlust von Lebensräumen als um deren Umgestaltung geht. Mit den Bäumen verschwinden auch die Laubschicht auf dem Boden und die Wurzeln. Wasser und Sedimente können leichter über solche schutzlosen, von der Sonne ausgetrockneten Böden fließen und Pfützen bilden, in denen sich Mücken vermehren. Laut einer Untersuchung in zwölf Ländern kommen Mücken, die für den Menschen gefährliche Erreger übertragen, in abgeholzten Gebieten doppelt so häufig vor wie in Gebieten mit intakten Wäldern.

Die Zerstörung der Lebensräume verändert auch die Populationsgrößen der verschiedenen Arten, was wiederum das Verbreitungsrisiko eines Krankheitserregers erhöhen kann. Das West-Nil-Virus beispielsweise wird von Zugvögeln übertragen. Durch den Verlust von Lebensräumen und andere Zerstörungen ist deren Zahl in Nordamerika in den letzten 50 Jahren um ein Viertel zurückgegangen, wobei nicht alle Arten gleichermaßen betroffen sind.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique, der großen Monatszeitung für internationale Politik. LMd gibt es jeden Monat neu gedruckt und digital sowie zum Anhören. Das komplette Inhaltsverzeichnis der neuesten Ausgabe kann man hier nachlesen: www.monde-diplomatique.de/zeitung.

Sogenannte Spezialisten (für einen bestimmten Lebensraum) wie Spechte und Rallen leiden stärker unter den Zerstörungen als Generalisten wie Rotkehlchen und Krähen, die besonders gute Überträger sind. Deshalb ist das Virus bei diesen Vögeln sehr verbreitet, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine Mücke erst einen infizierten Vogel sticht und dann einen Menschen.

Genauso ist es bei Krankheiten, die durch Zecken übertragen werden. Im Nordosten Amerikas fressen sich die Städte immer weiter in die Wälder und vertreiben Tiere wie die Opossums, die die Population der Zecken unter Kon­trol­le halten, während andere Arten wie die Weißfußmaus und der Hirsch weiter gedeihen. So können sich durch Zecken übertragene Krankheiten wie die Lyme-Borreliose, die in den USA erstmals 1975 auftrat, leichter ausbreiten. In den letzten 20 Jahren wurden sieben neue Krankheitserreger identifiziert, deren Überträger Zecken sind.

Verkauf von lebendigen oder frisch geschlachteten Tieren

Nicht nur der Verlust von Lebensräumen vergrößert das Risiko von Krankheitsausbrüchen, sondern auch, wie wir mit Tieren umgehen, die für den menschlichen Verzehr vorgesehen sind. Manche von ihnen gelangen in den illegalen Handel oder werden auf sogenannten wet markets verkauft – Märkten, auf denen lebendige (oder frisch geschlachtete) Tiere gehandelt werden.

Dort sitzen verschiedene Tiere, die sich in der freien Natur wohl niemals begegnet wären, in Käfigen nebeneinander, und die Mikroben können fröhlich vom einen zum anderen wandern. Genau auf diese Weise konnte 2002/03 das Coronavirus entstehen, das für die Sars-Epidemie (Schweres Akutes Atemwegssyndrom) verantwortlich war, und möglicherweise ist dies auch der Ursprung des neuen Coronavirus.

Die vielen Tiere in unserem System der industriellen Fleischproduktion werden, bevor sie im Schlachthof enden, auf engstem Raum zusammengepfercht gehalten: ideale Bedingungen für die Verwandlung von Mikroben in tödliche Krankheitserreger. Wenn beispielsweise Vogelgrippeviren, deren Wirtstiere wildlebende Wasservögel sind, in Geflügelmastbetriebe eindringen, mutieren sie und werden sehr viel gefährlicher als in freier Wildbahn.

Dieser Vorgang erfolgt so zuverlässig, dass er sich im Labor reproduzieren lässt. Ein Stamm des Influenza-A-Virus, H5N1, überträgt sich auch auf den Menschen. Bei Tieren endet die Krankheit in über der Hälfte der Fälle tödlich. 2014 musste in Nordamerika millionenfach Geflügel gekeult werden, um die Ausbreitung einer anderen Variante von Influenza-A zu stoppen.

Jauchegruben sind der ideale Lebensraum für Coli-Bakterien

Die Berge von Ausscheidungen, die unser Nutzvieh produziert, bieten Mikroben tierischen Ursprungs weitere Gelegenheiten, Menschen zu infizieren. Weil unendlich viel mehr Exkremente anfallen, als die landwirtschaftlich genutzten Flächen in Form von Dünger aufnehmen können, werden sie häufig in nicht abgedichteten Jauchegruben abgeladen – der ideale Lebensraum für enterohämorrhagische Escherichia coli.

Über die Hälfte der Tiere in US-amerikanischen Mastbetrieben sind damit infiziert, aber das Bakterium schadet ihnen nicht.1 Bei Menschen verursachen solche Varianten von Coli­bakterien (wie Ehec), die nicht natürlich im menschlichen Darm vorkommen, hingegen blutige Durchfälle und Fieber und können zu akutem Nierenversagen führen. Und weil die Ausscheidungen der Tiere nicht selten in unser Trinkwasser und unsere Lebensmittel gelangen, sind allein in den USA jedes Jahr 90 000 Menschen davon betroffen.

Es passiert heute zwar immer häufiger, dass tierische Mikroben zu menschlichen Krankheitserregern mutieren, aber das Phänomen ist nicht neu. Erstmals aufgetreten ist es um die Zeit der neolithischen Revolution, als der Mensch begann, Lebensräume in der Wildnis zu zerstören, um Ackerland zu gewinnen und Tiere zu domestizieren. Im Gegenzug haben die Tiere uns einige vergiftete Geschenke gemacht: Die Masern und die Tuberkulose verdanken wir den Kühen, den Keuchhusten den Schweinen und die Grippe den Enten.

Dieser Prozess ging während der kolonialen Expansion Europas weiter: Im Kongo ließen die belgischen Kolonisatoren Eisenbahnen und Städte bauen. Dadurch ermöglichten sie es den Lentiviren, mit denen die einheimischen Makaken infiziert waren, sich immer besser an den menschlichen Körper anzupassen.

Aus dem Lentivirus der Makaken wurde HIV

In Bangladesh drangen die Briten in die riesigen Mangrovenwälder der Sundarbans vor, um Reisfarmen zu errichten. Dadurch gerieten die dort lebenden Menschen mit den Bakterien in Kontakt, die sich im Brackwasser aufhielten. Die Pandemien, die durch das Vordringen in der Kolonialzeit ausgelöst wurden, verfolgen uns bis heute. Aus dem Lentivirus der Makaken wurde HIV. Das Wasserbakterium der Sundarbans wurde unter dem Namen Cholera bekannt und hat bis heute sieben Pandemien verursacht.

Zum Glück sind wir nicht nur passive Opfer dieser Vorgänge. Wir können auch viel tun, um das Risiko krankmachender Mikroben zu mindern – etwa die Lebensräume der Wildtiere schützen, damit sie ihre Mikroben nicht auf uns übertragen. Die Initiative One Health der Weltgesundheitsorganisa­tion etwa hat sich genau dies zum Ziel gesetzt.2

Wir können für eine engmaschige Überwachung der Milieus sorgen, in denen Tiermikroben besonders leicht zu Krankheitserregern für Menschen mutieren. Dabei müssen wir versuchen, solche Mikroben zu eliminieren, die Zeichen der Anpassung an den menschlichen Organismus zeigen, bevor sie Epidemien auslösen. Genau darum kümmert sich seit zehn Jahren das Programm Predict, das von der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) finanziert wird.

Die Wissenschaftler von Predict haben bereits mehr als 900 neuartige Viren identifiziert, deren Entstehung damit zusammenhängt, dass immer mehr Regionen auf der Erde den Stempel menschlicher Eingriffe tragen. Zu diesen Viren zählen auch bislang unbekannte Stämme des Coronavirus, die ebenfalls dem Sars-Virus ähneln.

Trump-Regierung lockert Umweltauflagen für die Industrie

Heute droht uns eine neue Pandemie, und das nicht nur wegen Sars-CoV-2. Die Bestrebungen der Trump-Regierung, die Industrie von allen Umweltauflagen und sonstigen Einschränkungen zu befreien, wird in den USA unweigerlich dazu führen, dass immer mehr Lebensräume zerstört werden, und das begünstigt wiederum die Übertragung tierischer Mikroben auf den Menschen.

Gleichzeitig schmälert die US-Regierung die Chancen, gefährliche Erreger aufzuspüren, bevor sie sich verbreiten können: Im Oktober 2019 hat sie beschlossen, das Programm Predict zu beenden. Und Anfang Februar 2020 hat sie angekündigt, die Beiträge für das Budget der Weltgesundheitsorganisation um 53 Prozent zu kürzen.

Der Epidemiologe Larry Brilliant hat einmal gesagt: „Virusausbrüche sind unvermeidlich, Pandemien hingegen lassen sich vermeiden.“ Doch wir werden Pandemien nur vermeiden können, wenn wir bei der Veränderung der Politik ebenso entschlossen vorgehen, wie wir es bei den Eingriffen in die Natur und das Leben der Tiere getan haben.

1 Cristina Venegas-Vargas u. a., „Factors associated with Shiga toxin-producing Escherichia coli shedding by dairy and beef cattle“, „Applied and Environmental Microbiology“, Bd. 82, Nr. 16, Washington, D. C., August 2016.

2 Predict Consortium, One Health in Action case study booklet, EcoHealth Alliance, New York, Oktober 2016.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

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