Aus Le Monde diplomatique: Jahreszeiten des Hungers
20 Millionen Menschen in vier afrikanischen Ländern sind akut von Hunger bedroht. Konflikte, Klimawandel und Armut bilden eine tödliche Spirale.
Seit Urzeiten hat es Hungersnöte gegeben. An den Wänden ägyptischer Pharaonengräber finden sich Darstellungen verhungernder Menschen. Heute sind manifeste Hungersnöte seltener geworden, aber in einigen Regionen herrscht eine „stille“ Hungersnot, die sich der Aufmerksamkeit der restlichen Welt völlig entzieht.
Derzeit sind 20 Millionen Menschen in vier Ländern akut von Hunger bedroht, drei davon liegen in Subsahara-Afrika: Südsudan, Nigeria und Somalia. Diese Länder liegen zudem in Konfliktgebieten, was humanitäre Maßnahmen zusätzlich erschwert.
Hungersnot ist die extremste Form einer Ernährungskrise. Eine Vorstufe ist das, was die Experten als „Ernährungsunsicherheit“ und „Mangelernährung“ bezeichnen. Ernährungsunsicherheit bedeutet, dass Menschen keinen täglichen Zugang zu genügend oder ausreichend vielseitiger Nahrung haben. In diesem Zustand ist Hunger eine ständige Angst.
Um diese Angst zu begreifen, gilt es zu verstehen, was drohender Hunger konkret bedeutet. Stelle dir vor, du bist ein afrikanischer Bauer mit zwei Hektar Land. Du baust Mais, Bohnen und diverse Gemüsesorten an, hast eine Kuh und zwei Ziegen. Du hast das Gefühl, es geht aufwärts, aber nach wie vor ist das Leben für deine Familie hart.
Vor einigen Monaten hast du Mais geerntet und einen Teil davon sofort verkauft, weil du die Schulgebühren der Kinder zahlen und Lebensmittel kaufen musst, die du selbst nicht anbaust. Für den eigenen Verzehr ist nur wenig von der Ernte übrig geblieben. Der verkaufte Mais hat nicht viel Geld eingebracht, weil zur gleichen Zeit auch alle anderen Bauern der Region ihren Mais verkauft haben. Aber du konntest nicht warten, bis die Preise wieder steigen, weil du keinen guten Silo hast und die Ernte schnell verrottet wäre.
Nun beginnt die magere Zeit. Das Geld ist aufgebraucht; in den Läden sind die Lebensmittelpreise extrem gestiegen. Deine Vorräte reichen noch für zwei Wochen. Du kümmerst dich jeden Tag um deine Bohnen, damit sie gut gedeihen. Aber du kannst sie erst in sechs Wochen ernten und verkaufen. Aber bis dahin musst du für die Familie Essen auf den Tisch bringen.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version). Das komplette Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe finden Sie unter www.monde-diplomatique.de.
Du und deine Frau könnten einzelne Mahlzeiten auslassen, und vielleicht kriegen die Kinder zum Abendessen kleinere Portionen. So lassen sich die Vorräte um ein, zwei Wochen strecken. Du denkst daran, Geld zu leihen. Aber im Dorf gibt es keine Bank, und die Banken in der Stadt haben kein Interesse daran, Bauern ohne Sicherheit einen Kredit zu geben. Man könnte Darlehen vom Geldverleiher des Dorfs bekommen, der 40 Prozent Zinsen verlangt. Damit könntest du die Familie vorerst durchbringen, aber du wirst es kaum schaffen, das Darlehen zurückzuzahlen.
Entweder Schulgeld oder Essen
Also musst du etwas verkaufen. Eigentlich wolltest du irgendwann die Ziegen schlachten, damit die Kinder Fleisch bekommen. Aber jetzt musst du eine verkaufen, um genügend Mais für einige Wochen zu erstehen. Um diese Jahreszeit sind die Ziegen mager, der Preis ist nicht gut, aber besser als nichts. Du versuchst, Arbeit zu finden. Ein Nachbar mit einer größeren Farm könnte dich vielleicht für einige Stunden am Tag einstellen. Aber am Ende gibt es keine Arbeit. Du denkst, du wirst schon irgendwie durchhalten, bis zur nächsten Ernte sind es nur wenige Wochen.
In diesem Moment passiert eine Katastrophe. Ein neuer Schädling – der Heerwurm – verbreitet sich in deiner Region. So etwas hast du noch nie gesehen, deine Bohnenernte wird vollständig vernichtet. Du überlegst, die Kinder von der Schule zu nehmen, dann können sie Wäsche machen, für andere Bauern Ziegen hüten oder Feuerholz sammeln, irgendwie Geld verdienen.
Du weißt, dass Bildung für die Kinder die Zukunft bedeutet – aber die ist noch so weit weg, und deine Familie braucht das Geld jetzt. Du willst nicht, dass auch deine Kinder auf Mahlzeiten verzichten müssen, also verkaufst du die andere Ziege und auch die Kuh. Natürlich sagen die Leute in der Gesundheitsstation, dass Milch für heranwachsende Kinder wichtig sei. Und es fehlen jetzt auch die geringen Einnahmen aus dem Verkauf der überschüssigen Milch. Und Ziegenfleisch kannst du vergessen.
ist Executive Director des Welternährungsprogramms.
Vielleicht musst du, um Arbeit zu finden, in die Hauptstadt fahren. Die liegt einige Reisestunden entfernt, du wirst die Familie monatelang nicht sehen. Fünf Nachbarn sind bereits dorthin gewandert, aber seit Wochen hat man nichts von ihnen gehört. Du kannst auch in der Umgebung Nahrung sammeln. Pilze, Kräuter, Früchte? Viel ist es nicht, aber jetzt zählt jeder Krümel.
Vielleicht solltest du ein Stück Land verkaufen, mit dem Geld könnte die Familie bis zur nächsten Maisernte überleben. Aber die wird natürlich noch geringer ausfallen, wenn du nur halb so viel Land bestellen kannst. Du möchtest eigentlich kein Darlehen aufnehmen, weil du erlebt hast, wie Nachbarn immer tiefer in Schulden gerutscht sind. Aber das ist immer noch besser, als die eigenen Kinder hungern zu sehen. Und wenn der Kredit fällig wird? Dann wird es noch schlimmer als dieses Jahr.
Die Falle Ernährungsunsicherheit
Das Beispiel zeigt uns, was Ernährungsunsicherheit im Alltag bedeutet. Ihre Ursache ist Ergebnis einer Mischung aus Armut und Unterentwicklung – auf landwirtschaftlicher, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene. Und das bei unzureichender Grundversorgung, die vor allem auf dem Lande herrscht. Hier können sämtliche Ersparnisse einer Familie durch ein einziges Ereignis vernichtet werden: eine Dürre, einen Todesfall, einen Krankenhausaufenthalt. Und dann beginnt eine Spirale: Hunger macht krank, was die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt, das bedeutet noch weniger zu essen, was wiederum den Gesundheitszustand weiter verschlechtert.
In einigen afrikanischen Ländern – wie Somalia oder Südsudan – sind bewaffnete Konflikte das größte Hindernis bei der Bekämpfung von Hunger. Wenn die Menschen vor Gewalt fliehen müssen, können sie keine Felder bestellen, kein Vieh versorgen, kein Geschäft betreiben. Das wirtschaftliche Leben entgleist, die Lebensmittel werden schlagartig teurer, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen verfallen.
Hinzu kommt der Klimawandel mit seinen Auswirkungen auf Ackerbau und Viehwirtschaft. Die afrikanischen Bauern haben die Erderwärmung nicht verursacht, bekommen die Folgen aber unmittelbar zu spüren. Dürren treten immer häufiger und ausgeprägter auf und bedrohen die traditionelle Lebensweise. Die Böden werden ausgelaugt, die Familien müssen auf immer schlechtere Böden ausweichen, die Erträge sinken.
Wir können diesen Teufelskreis durchbrechen. Trotz der trostlosen Zahlen hat sich die Perspektive für viele Afrikaner verbessert. Der Anteil hungernder Menschen ist heute geringer als vor 20 Jahren. Die Herausforderung für die afrikanischen Regierungen und für Organisationen wie das Welternährungsprogramm besteht darin, diese Entwicklung zu fördern und zu beschleunigen.
Dabei ist die Lage überall anders. In den Länder Zentralafrikas ist sie schwierig, in Westafrika dagegen hat sie sich in den vergangenen 25 Jahren deutlich verbessert: Hier ist der Anteil unterernährter Menschen von 24 auf 10 Prozent gesunken. Im südlichen Afrika wird die schon erreichte relative Ernährungssicherheit weiter verbessert. Die umsichtige Reaktion auf die Dürre von 2016 hat eine Katastrophe verhindert. Auch in Ostafrika wurden Fortschritte erzielt, aber der Weg ist noch weit. So muss Äthiopien trotz seiner boomenden Wirtschaft 2017 mit dem Einbruch des BIPs um 16,5 Prozent rechnen. Einer der Hauptgründe: Unterernährung bei Kindern.
Aus dem Englischen von Birgit Bayerlein
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