Augenzeugenbericht von Kairos Straßen: Pullover helfen beim Durchhalten
Pause vom Protest: Auch Demonstranten müssen einmal etwas essen. Nicht überall klappt die Versorgung so gut wie in Downtown Kairo. Eine Berlinerin berichtet.
Selbst die ausdauerndsten Demonstranten müssen mal etwas essen und aufs Klo. Unser Haus, ein ehemaliges Hotel mit vielen Wohnungen, hat sich deshalb in diesen Tagen in eine Art Zufluchtsort verwandelt, denn es liegt nur wenige Gehminuten vom Tahrir-Platz entfernt, dem Zentrum des Geschehens.
Meine Freundin Lamma, die mit ihrer Mutter auch hier wohnt, hat mich zum Frühstück eingeladen. Als ich bei ihr ankomme, ist die Wohnung voll von Leuten, die gerade von dem Protest kommen oder bald wieder hingehen. Unter ihnen sind Journalisten, Schauspieler, Büroangestellte und Studenten, und sie alle sind sich einig in ihrem Ziel: Mubarak muss gehen.
Lammas Freund Ali sitzt auf der Couch und schaut nur kurz vom Fernseher auf, als ich das Zimmer betrete. Es läuft ein Tennisturnier. "Guck in den Kühlschrank und mach dir Frühstück", ruft Lamma mir zu, während sie im Bad verschwindet. Am Freitag war dieser Kühlschrank noch leer, doch heute, es ist Samstag, hat die Familie vom Supermarkt Lebensmittel liefern lassen. Erstaunlich, was in einem Billiglohnland selbst in Zeiten des Aufruhrs noch funktioniert.
NORA MBAGATHI, 23, studiert seit drei Jahren an der Amerikanischen Universität in Kairo
Ich mache mir ein Käsesandwich und setze mich neben Ali. "Ich wette, du bist jetzt froh, dass du nach Downtown gezogen bist", sagt er. Bin ich. Nicht nur, weil man in diesen Tagen nicht in allen Vierteln so leichten Zugang zu Grundnahrungsmitteln hat wie hier. Bis vor wenigen Monaten lebte ich in Mohandessin, in einem ruhigen, bürgerlichen Stadtteil. Das Haus, in dem ich gewohnt habe, muss inzwischen von Zivilisten geschützt werden. Eine ehemalige Nachbarin hat erzählt, dass dort Leute, als Polizisten verkleidet, aus gestohlenen Krankenwagen gesprungen sind und angefangen haben zu schießen und zu plündern. Ja, ich bin froh, dass ich nach Downtown gezogen bin. Dank der Proteste und der Militärpräsenz gibt es wohl derzeit keinen sichereren Ort in Kairo.
Lamma kommt wieder aus dem Bad und stellt sich vor den Spiegel. "Ich habe gestern eine Gesichtsmaske aufgelegt, dieses Tränengas ruiniert meine Haut." Ali fängt an zu lachen, doch Lamma bleibt keine Zeit, die Ironie ihrer Äußerung zu erkennen. Ihre Mutter kommt ins Zimmer und scheucht uns auf. Sie möchte auf den Tahrir-Platz gehen, bevor die Ausgangssperre in Kraft tritt. Alle Hinweise darauf, dass noch viel Zeit bleibt und am Freitag sogar die U-Bahnen noch lange nach Beginn der Sperre fuhren, lassen sie kalt. Ich gehe zurück in meine Wohnung und halte die Stellung.
Vier Stunden später, eine Stunde nach der Ausgangssperre, ist Lammas Mutter noch immer auf dem Platz und Al-Dschasira berichtet von Gerüchten, dass Soldaten Befehle hätten, scharf auf Demonstranten zu schießen. Ich rufe Lamma an, um ihr das zu erzählen, und sie versichert mir, alles sei noch immer sehr friedlich. Doch es schwingt ein nervöser Unterton in ihrer Stimme mit.
Als Hubschrauber und Militärflugzeuge anfangen, tief über dem Platz zu kreisen, kommt sie zu mir in die Wohnung. "Die hören sich gruselig an." Wir reden und witzeln, doch wir entspannen uns erst, als der Lärm endet und die Flugzeuge weg sind. Was sie zu bedeuten hatten, bleibt uns unklar. Lamma geht wieder nach unten, und ich suche schon mal Pullover raus für die Freunde, die auf dem Platz übernachten wollen.
Es ist Sonntagabend, und ich koche Abendessen. In der Ferne höre ich wieder Lärm von Militärhubschraubern. Ich beschließe, ein paar Portionen mehr zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern