Auftakt Berlinale 2024: Gerade viel los
Mit der 74. Berlinale beenden Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek ihre Festival-Leitung. Die Festspiele starten unter stürmischen Vorzeichen.
Internationale Filmfestspiele Berlin. Damit wäre eigentlich schon viel gesagt. Zur Frage, was die national orientierte AfD auf diesem Festival verloren hat, aber auch zu den vorab erfolgten Aufrufen, das Festival zu boykottieren, weil es als Kulturveranstaltung des Bundes stellvertretend für die Politik der Bundesregierung an den Pranger gestellt wird – von Personen, die gegen Solidarität mit Israel sind.
Im Vorfeld hatte es mithin hier und da schon gerumst, und das nicht der Filme wegen. So gab es in Verbindung mit der Boykottaktion „Strike Germany“ drei Absagen von Filmemachern, die in der freien Sektion „Forum Expanded“ ihre Arbeiten vorstellen sollten.
Doch auch das Bekanntwerden von Einladungen an AfD-Abgeordnete zur Eröffnungsfeier der Berlinale hatte vorübergehend zu einer Absage geführt: Der Künstler Lawrence Lek zog seine Teilnahme an einer Podiumsveranstaltung der Reihe „Berlinale Talents“ zunächst zurück. Nachdem die beiden AfD-Abgeordneten, die zur Eröffnung kommen wollten, von der Festivalleitung wieder ausgeladen worden waren, machte Lek seine Entscheidung rückgängig.
Es erscheint ein wenig unübersichtlich, was da alles an Ungemach auf die Berlinale zuzukommen droht. Die Proteste gegen die Anwesenheit der AfD etwa haben sich mit deren Ausladung selbstverständlich noch nicht erledigt. So haben Filmemacher angekündigt, zur Eröffnung auf dem Roten Teppich eine Protestaktion gegen die rechtsextreme Partei zu veranstalten.
Der Film „Shikun“ über einen israelischen Wohnkomplex
Auch ansonsten dürften Proteste aller Art, zumindest aber heftige Diskussionen diese Berlinale begleiten. Der israelische Filmregisseur Amos Gitai wird zum Beispiel zu Gast sein und seinen Film „Shikun“ vorstellen, der in einem israelischen Wohnkomplex gleichen Namens spielt und unter anderem von Eugène Ionescos Theaterstück „Die Nashörner“ inspiriert ist.
Einfach bloß über Filme sprechen wäre das Schönste bei dieser anstehenden 74. Berlinale. Allerdings beginnt sie nicht allein unter bewegten Umständen unabhängig von ihr selbst, auch die Berlinale als solche startet in eine noch näher auszubuchstabierende Zukunft. Für den künstlerischen Leiter Carlo Chatrian und die Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek wird es die letzte Ausgabe sein, Rissenbeek hatte im vergangenen Frühjahr bekanntgegeben, dass sie ihren Vertrag über 2024 hinaus nicht verlängern wird.
Bei Chatrian war es die Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die verkünden ließ, dass die Berlinale fortan nach einem Intendantenmodell wieder von einer Person geleitet wird. Für Chatrian war diese Position de facto nicht vorgesehen, er sah sich stets rein als künstlerischen Leiter und teilte im Sommer mit, dass er über 2024 hinaus nicht bei der Berlinale arbeiten wird. Zu Beginn dieses Jahres war dann die künftige Leiterin der Berlinale, Tricia Tuttle, in Berlin vorgestellt worden. Sie leitete zuvor das London Film Festival.
Die fünf Jahre, in denen Chatrian das Programm der Berlinale verantwortete, brachten ein schlankeres Festival, in dem vor allem die von seinem Vorgänger Dieter Kosslick eingeführte Sektion „Kulinarisches Kino“ wegfiel und es insgesamt weniger Filme gab als zuvor. Mit dem neugeschaffenen Parallelwettbewerb „Encounters“ kamen andererseits Beiträge hinzu, die sich vom konventionellen Erzählkino entfernten und nicht selten mit Entdeckungen aufwarteten.
Die schwankende Qualität der Wettbewerbsfilme
An der schon vor Chatrian oft vorgebrachten Kritik an der schwankenden Qualität der Wettbewerbsfilme konnte allerdings auch er wenig ausrichten. Das Öffnen des Wettbewerbs für Filme, die zuvor beim Sundance Film Festival gelaufen waren, darunter Eliza Hittmans großes Abtreibungsdrama „Niemals selten manchmal immer“ von 2020, brachte ihm ebenfalls Vorwürfe ein. Hinzu kamen die schwierigen Berlinale-Jahrgänge während der Pandemie, bei denen das eigentliche Festival 2021 sogar ohne Kinos und unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die heimischen Bildschirme von Pressevertretern und Branchenangehörigen ging. Das anschließende Freiluftkino im Sommer war dann immerhin ein frischer Ersatz.
Berlinale, 15. bis 25. Februar, www.berlinale.de
Eigentlich, so hatte man den Eindruck, lief sich Chatrian in den vergangenen Jahren immer noch ein bisschen warm, war die Berlinale im Begriff, weiter umgebaut zu werden. Nicht unbedingt zum Schlechteren, ungeachtet der nötigen Einsparungen, die im letzten Frühjahr bekannt wurden. Mit der Folge, dass die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ aufgelöst wurde und die Filme deutscher Nachwuchsregisseure seither auf die anderen Sektionen verteilt werden müssen.
Auch Programme wie die „Hommage“ für den Ehrenbärpreisträger entfielen weitgehend. Bekam 2023 der Regisseur Steven Spielberg noch eine ansehnliche Werkschau kredenzt, muss sein in diesem Jahr zu feiernder Kollege Martin Scorsese mit einem auf drei Filme eingeschrumpften Programm Vorlieb nehmen. Darunter immerhin der Dokumentarfilm „The Films of Powell and Pressburger“ von David Hinton, in dem Scorsese als Sprecher erzählt, wie die üppig inszenierten Werke des britischen Duos ihn als Kind und später als Regisseur prägten.
Den Filmen darf man, allem Ärger zum Trotz, auch dieses Mal freudig entgegensehen. Im Wettbewerb stehen neue Arbeiten vom mauretanischen Regisseur Abderrahmane Sissako, den Franzosen Olivier Assayas, Bruno Dumont und Mati Diop oder dem russischen Dokumentarfilmer Victor Kossakovsky an, ebenso von den iranischen Regisseuren Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, dem südkoreanischen Autorenfilmer Hong Sangsoo und aus Deutschland zum Beispiel von Andreas Dresen.
Das Drama „Ivo“ über eine Palliativpflegerin
Sollte der Wettbewerb nicht den Erwartungen entsprechen, gibt es in den übrigen Sektionen genug Auswahl für das Berlinale-Publikum, die sich lohnt. In den Encounters hat die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann einen neuen Dokumentarfilm, „Favoriten“, über eine Wiener Schulklasse. Die deutsche Regisseurin Eva Trobisch wiederum begleitet in ihrem Drama „Ivo“ eine Palliativpflegerin bei der Arbeit.
In der Sektion „Panorama“ gibt es Satirisches von Josef Hader („Andrea lässt sich scheiden), Dramatisches von Nora Fingscheidt („The Outrun“) oder Sozialkritisches von André Techiné („Les gens d’à côté“). Und in der Sektion „Forum“, die zum ersten Mal von ihrer neuen Leiterin und taz-Autorin Barbara Wurm verantwortet wird, kann man in einem Beobachtungsfilm von Kazuhiro Soda „The Cats of Gokogu Shrine“ bewundern: freilebende Katzen, die von freiwilligen Helfern versorgt werden.
Mit „Kottukkaali“ von Vinothraj PS gibt es einen tamilischen Film aus Indien über Zwangsehen im Programm. Der südkoreanische Horrorfilm „Pa-myo“ von Jang Jae-hyun verspricht zudem stilistisch die Rückkehr zum sogenannten „Mitternachtskino“, in dem asiatische Genrefilme einst ihren großen Auftritt auf der Berlinale hatten. Und mit „Ellbogen“ von Aslı Özarslan bietet die Sektion „Generation“ eine Adaption des Debütromans der früheren taz-Kollegin Fatma Aydemir.
Bei 239 Filmen gibt es so wenige Filme wie lange nicht mehr, ein Publikumsfestival bleibt die Berlinale dennoch. Wobei bisher unklar ist, an welcher Stelle in der Stadt die Berlinale in Zukunft ihren zentralen Ort haben wird. Aus dem Filmhaus am Potsdamer Platz weichen alle dort versammelten Institutionen, vom Kino Arsenal, das die Sektion Forum betreibt, über die Deutsche Kinemathek und das Filmmuseum bis hin zur Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).
2025 endet schließlich der Vertrag für den Premierenspielort, den in einem Musicaltheater untergebrachten Berlinale Palast. Zumindest das muss dann nicht mehr die Sorge von Chatrian und Rissenbeek sein.
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