Auflösung des tunesischen Parlaments: Vom Westen vergessen
Tunesien galt als demokratische Hoffnung der arabischen Welt. Jetzt kümmert uns nicht, dass dort ein Despot dem Parlament die Macht entreißt.
V iel ist dieser Tage zu lesen vom Kampf zwischen autokratischen und demokratischen Systemen, der auch im Ukrainekrieg ausgefochten wird. Europa schickt Waffen und Sympathie ins östliche demokratische Nachbarland, sanktioniert den Autokraten Wladimir Putin und fürchtet den Schulterschluss zwischen Russland und China.
Derweil hat man die Ereignisse im Süden aus den Augen verloren. Dass die arabische Welt von Despoten regiert wird, gehört anscheinend zu den festen Gegebenheiten dieser Welt. Geschäfte mit arabischen Autokraten laufen unter „Realpolitik“. Man fragt nicht nach, wenn Menschen in Saudi-Arabien in Massen exekutiert oder in Ägypten verhaftet werden.
Selbst dort, wo sich tatsächlich etwas verändert hat, interessiert uns das nicht mehr. Etwa in Tunesien, vor einem Jahrzehnt gefeiert als einziges positives Ergebnis des Arabischen Frühlings, mit all den Schwierigkeiten, die mit diesem demokratischen Experiment einhergingen. Dort demontiert Präsident Kais Saied nun kontinuierlich alle demokratischen Errungenschaften. Letzten Sommer hob er die Gewaltenteilung auf, indem er das Parlament suspendierte. Seitdem regiert er im Alleingang.
Nachdem es über die Hälfte der Abgeordneten am Mittwoch gewagt hatte, ihm die Stirn zu bieten und sich online zu treffen, um den von Said verkündeten Ausnahmezustand für nichtig zu erklären, löste der Präsident das Parlament jetzt endgültig auf. Er droht, die Abgeordneten wegen „Verschwörung gegen die Staatssicherheit“ vor Gericht zu stellen. Unterstützt wird er von Ländern wie den Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien, die jegliche demokratische Veränderung in der arabischen Welt verhindern wollen, vergessen wird das Land von Europa.
Tunesien, einst die einzige demokratische Insel im arabisch-autokratischen Meer, droht unterzugehen. Das schlägt ein paar kleinere Wellen. Wenn die in Europa ankommen, werden wir sie nicht spüren. Wir sind zu beschäftigt, unsere demokratischen westlichen Werte in Richtung Osten hochzuhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe