Aufklärung sexuellen Missbrauchs: Ein Anfang nach all den Jahren
Missbrauchsopfer einer Schule in Darmstadt erreichen bei den Behörden Aufklärung. Hessens Kultusminister wird eine Kommission einsetzen.
BERLIN taz | Es war ein konstruktives Gespräch mit viel zu langem Vorlauf. Jahrzehnte nachdem weit mehr als 100 Schüler der Elly-Heuss-Knapp-Schule in Darmstadt von einem Lehrer missbraucht wurden (taz. am wochenende berichtete), trafen sich Betroffene am Mittwoch in Wiesbaden erstmals mit den verantwortlichen Behörden.
Der hessische Kultusminister Alexander Lorz (CDU) zeigte sich erschüttert. „Was hier ganzen Schülergenerationen angetan wurde, verdient unser tiefstes Mitgefühl.“ Der Täter war jahrzehntelang an der Schule tätig.
Im Gespräch als unabhängige Gutachterinnen sind offenbar die Juristinnen Brigitte Tilmann und Claudia Burgsmüller, die bereits die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule untersuchten. Sie sollen schnellstmöglich beginnen, Kontakt mit Altschülern und ehemaligen Lehrkräften der Darmstädter Schule aufzunehmen und Unterlagen zu sichten. Die Untersuchungen sollen den vollen Umfang der begangenen Straftaten sichtbar machen und klären, warum der Missbrauch so lange unentdeckt bleiben konnte. Mit ersten Ergebnissen ist frühestens nach sechs Monaten zu rechnen.
Im Fall des Lehrers Buß liegt ungewöhnlich viel Material vor: Tagebücher und Briefe, in denen der Täter seine Taten dokumentierte, sind erhalten, Auszüge davon lasen Betroffene dem Kultusminister vor.
„Verlorene Jungs“
„Endlich wurden wir gehört – jetzt muss die Behörde ihre Mitschuld ernst nehmen und tätig werden“, sagte ein Mitglied der Bürgerinitiative nach dem Gespräch. Bereits seit 2012 fordern einzelne Betroffene lückenlose Aufklärung und eine offizielle Entschuldigung der Behörden. Es bedurfte allerdings erst des Zusammenschlusses zur Bürgerinitiative und des Einschaltens des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Rörig, bis die Forderungen durchdrangen.
Der hessische Landtagsabgeordnete Marcus Bocklet (Grüne), der sich bereits in der Aufklärung des Odenwaldschul-Skandals engagiert hatte, bezeichnete die Schilderungen der Opfer vor dem Minister als „bedrückend, aber konstruktiv“. Er zeigte sich zuversichtlich, dass nun eine schnelle und ernsthafte Untersuchung auch der Behördenverantwortung erfolge – schneller als im Fall der Odenwaldschule. Deren Vertreter Adrian Koerfer, Vorstand des Opfervereins „Glasbrechen“, nahm ebenfalls als Experte an dem Treffen teil.
Der Täter, der fast vierzig Jahre im hessischen Schuldienst war, wurde 2005 zu vier Jahren Haft verurteilt, er starb 2008. Erhaltene Tagebücher des Lehrers und Aussagen früherer Opfer lassen jedoch vermuten, dass er weit mehr als 100 Jungen missbraucht hat.
Wie die taz recherchierte, hatten mehrere Opfer den Missbrauch bei der Schulleitung und der Schulaufsicht angezeigt. Trotzdem erfolgte nie eine Untersuchung der Taten, der Lehrer blieb bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1992 unbehelligt. Die Betroffeneninitiative will sich künftig „Verlorene Jungs“ nennen – nach dem Titel der taz-Reportage.
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