Auf der A24 von Hamburg nach Berlin: Alles in Maaßen am 8. Mai
Was eine Autobahnfahrt durch Brandenburg mit dem Tag der Befreiung und dem Ex-Präsidenten des Verfassungsschutz zu tun haben. Unser Autor klärt auf.
Stunde Null“ und „Nie wieder!“ waren meine ersten Assoziationen, als ich erfuhr, dass mein nächster Text am symbolträchtigen 8. Mai erscheinen wird. Fast zeitgleich kürte die CDU in Süd-Thüringen den Rheinländer und Wahlberliner Hans-Georg Maaßen zu ihrem Direktkandidaten für den Bundestag. Als eines der Gesichter der Werteunion gehört der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes zu denen, die schamlos mit dem äußerst rechten Rand flirten.
Verdammt, dachte ich, wieder nutzt ein Wessi Ostdeutsche aus, um sich eine neue berufliche Karriereoption zu verschaffen, und nährt dabei das Klischee vom radikal rechten Osten.
Ausgerechnet Thüringen. Jenes Bundesland, in dem 1994 der Westimport Helmut Roewer Präsident des Verfassungsschutzes werden durfte. Während sich seine Behörde ausgiebig dem Kampf gegen Linksextremisten widmete, wuchs und gedieh in seiner Amtszeit die rechtsextreme Szene – auch mit Geld des VS, der NSU entstand. Heute ist Roewer seinen Job längst los, schreibt für das Compact-Magazin und andere neurechte Medien. Ein Antifa-Schelm, wer Böses dabei denkt.
Irgendwann in den nuller Jahren fuhr ich gemeinsam mit einem Freund von einem Hamburgtrip zurück nach Berlin. Zwei Nicht-Almans auf dem Heimweg. Es war Anfang Mai, die Dämmerung setzte langsam ein. Rund 100 Kilometer vor Berlin war der Tank leer. Gerade noch so erreichten wir einen einsamen und verlassenen Rastplatz, mitten in Brandenburg. Sofort scannten wir reflexhaft den Ort. Nicht auf der Suche nach einer Sitzgelegenheit, sondern nach dem besten Fluchtweg.
Als wenn es einstudiert wäre
Es lief ganz automatisch, als wenn wir’s einstudiert hätten: Wortlos knieten wir uns nieder, zogen die Schnürsenkel fest, für den Fall, losrennen zu müssen. Mein Kumpel öffnete sein Handschuhfach, holte ein Springmesser raus und steckte es sich in die Jackentasche.
Mit krimineller Energie hat er genauso viel zu tun wie Horst Seehofer mit Antirassismus. Waffen dieser Art etablierten sich schon in den neunziger Jahren in allen möglichen migrantischen Kreisen, als die braune Suppe hochkochte, nicht nur in Ostdeutschland. Für die einen waren es Baseballschlägerjahre, für die anderen sind es seitdem Springmesserjahrzehnte.
Hilfe kam schneller als erhofft. Zwei Stunden später waren wir wieder zu Hause. Trotzdem können wir diesen Moment bis heute nicht vergessen. Wenige Tage darauf, es war der 8. Mai, trafen mein Kumpel und ich uns mit Freunden. Wir waren bestimmt ein Dutzend Leute, mit und ohne Migrationshintergrund, aus Ost und West. Unsere Geschichte war schnell Thema. Einer löste in der Runde mit der Anmerkung Kopfnicken aus, wie traurig und armselig es sei, sich Jahrzehnte nach dem Ende des Dritten Reichs und dem vermeintlichen Neustart solche Sorgen machen zu müssen.
Maaßen wurde 2012 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Er folgte auf Heinz Fromm, der gehen musste, weil in seinem Amt wie von Zauberhand stapelweise NSU-Akten vernichtet wurden. Der Neue sollte verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Das gelang ihm nicht. Jedenfalls nicht bei meinen Freunden und mir und auch nicht bei Millionen anderen Menschen. Aus heutiger Sicht wäre es wohl kaum vermessen zu behaupten, es wollte ihm nicht gelingen.
Baseballschläger im Kofferraum
Ein knappes Jahrzehnt später gibt es wesentlich mehr offene als beantwortete Fragen zum NSU und anderen rechtsextremen Aktivitäten, in die mutmaßlich auch Staatsbeamte verwickelt waren oder sind. 2018 verlor Maaßen dann endlich seinen Schlapphut, als er die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz relativierte.
Seit der Autogeschichte staune ich jedes Jahr (nicht nur) am 8. Mai, wie immer noch zu wenig „Stunde null“ und „Nie wieder!“ in zu vielen Behörden der Bundesrepublik stecken. Denn jedes Jahr werden neue Fälle bekannt, die das Gegenteil von beidem vermuten lassen.
Ein Jahr nach Maaßens Amtsantritt beim Verfassungsschutz stellte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags seinen Abschlussbericht vor. Auf der Pressekonferenz sagte der Vorsitzende: „Für das Vertrauen in den Rechtsstaat kommt es darauf an, dass dieser zwei Versprechen glaubhaft jedem gegenüber, der in diesem Land lebt (…) aussprechen kann. Das erste Versprechen ist, dass die dafür zuständigen Sicherheitsbehörden alles tun, was ihnen möglich ist, um hier lebende Menschen vor Verbrechen (…) zu schützen. Und das zweite Versprechen ist, dass (…) die dafür zuständigen Ermittlungsbehörden alles dafür tun, dass unvoreingenommen in alle Richtungen schauend und professionell Aufklärungsarbeit betrieben wird. Mein Befund ist: Beide dieser zentralen Versprechen im Rechtsstaat sind gegenüber den Opfern des NSU gebrochen worden.“
Acht Jahre später, fast 15 Jahre nach der Rastplatz-Erfahrung und 76 Jahre nach dem 8. Mai 1945, hat mein Kumpel inzwischen einen Baseballschläger im Kofferraum.
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