Atomkraft im Nordwesten Englands: Im Schatten der Strahlen
Im Stammland der britischen Nuklearindustrie sind Zweifel an der Atomkraft unbeliebt. Atomkraftgegner lassen trotzdem nicht locker.
Am Horizont ragt eine riesige Industriesilhouette empor, benannt nach dem einstigen Dorf Sellafield. Hier im Nordwesten Englands entstand direkt nach dem Zweiten Weltkrieg Großbritanniens erstes Atomkraftwerk, das zunächst Windscale hieß und Plutonium für das britische Atomwaffenarsenal herstellte. Hier gab es 1957 einen großen Reaktorunfall, hier steht bis heute eine Wiederaufarbeitungsanlage für radioaktiven Müll aus aller Welt, umgeben von mit radioaktivem Material gefüllten Gebäuden.
Es ist ein Hochsicherheitsgelände. Als Birkby mit einer kleinen Gruppe von Atomkraftgegnern das Denkmal der Opfer von 1957 aufsucht, auf öffentlichem Gelände vor dem doppelten Stacheldrahtzaun, wartet schon die Polizei. Die Beamten verlangen die Personalien der Gruppe und beobachten sie bis zur Rückkehr auf den Parkplatz, „aus Sicherheitsgründen“.
Berichten zufolge ist der Zustand der WAA Sellafield kritisch. So soll verstrahltes Wasser eines riesigen Kühlbeckens seit Jahren durch Risse im Beton in den Grund sickern. Es fließt auch radioaktives Wasser in die Irische See. Der ehemalige Entsorgungsdirektor des staatlichen Betreibers Sellafield Ltd, Jack De Vine, bezeichnete Sellafield in einer BBC-Sendung als „tickende Zeitbombe“.
Seit Neuestem gehört zur Leitung von Sellafield Ltd auch der bisherige Wahlkreisabgeordnete Jamie Reed. „Aus familiären Gründen“, gab der Labour-Politiker Ende 2016 bekannt, gebe er nach elf Jahren seinen Parlamentsjob auf. Im Januar wurde er Direktor für Entwicklung und Community Relations bei Sellafield Ltd. Deswegen gibt es jetzt Neuwahlen im Wahlkreis Copeland, wo Sellafield liegt.
Ja zu neuer Atomkraft – für das Klima
Die Nachwahl sollte für Labour eigentlich kein Problem sein. Die Arbeiterpartei hält Copeland seit 80 Jahren. Doch Labours Parteichef Jeremy Corbyn schafft es, auch diese Wahl zur Zitterpartie zu machen, war er doch in der Vergangenheit Kritiker der Atomkraft.
An der sogenannten Energieküste Großbritanniens stellte Corbyns Haltung nicht nur für den Labour-Abgeordneten Reed ein Problem dar. Wirtschaftliche Alternativen zu Sellafield gibt es in dieser Region wenige, vom touristischen Lake District abgesehen. Ein Vater, der mit seinen zwei Kinder an der Marina in Whitehaven spazieren geht, ist da ganz typisch: „Ich besitze einen Laden in Whitehaven und das Geschäft hängt von den Einkäufen der Angestellten von Sellafield ab“, sagt er. „Deshalb kommt keine Partei für mich in Frage, die das gefährdet.“
Jamie Reed hat auch schon für das geplante neue AKW Moorside geworben, eine Erweiterung Sellafields. Seit seinem Rücktritt kennt Copeland keine Parteien mehr, nur noch AtomkraftbefürworterInnen. Die Konservativen zitieren auf ihren Flugblättern Labour-Chef Corbyn mit dem Satz „Ich sage Nein zur Atomkraft“ und zeigen ihre eigene Kandidatin Trudy Harrison vor der Sellafield-Anlage, wo sie einst Projektleiterin war.
Labour zitiert Corbyn lieber nicht, sondern schickt für Reeds Nachfolge eine Atomkraftfreundin ins Rennen: Gemeinderätin Gillian Throughton, die zur Kernkraft Ja „ohne Wenn und Aber“ sagt: Ihr Mann arbeitet in Sellafield im Sicherheitsbereich. Liberaldemokratin Rebecca Hanson unterstützt das geplante neue AKW Moorside, „um die Klimaziele einzuhalten“, wie sie der taz schreibt.
Auch die Ukip-Kandidatin steht voll hinter „nuklearer Erneuerung“. Inzwischen twitterte auch Corbyn: „Ich unterstütze neue Atomenergie in Copeland als Teil eines besseren Energiemixes, um die Lichter an zu lassen und den Klimawandel zu verhindern.“
Geheimsache Krebs
In einem Reihenhaus mit Blick über Whitehaven sitzt Stuart Armstrong, 57, in seinem Wohnzimmer. „Entschuldigung, dass ich mich verspätet habe, ich habe nur schnell draußen die Vögel gefüttert“, beginnt er. Über dem Kamin stehen zwei Buddhas, auf der Treppe im Gang ein dritter, mit Räucherstäbchen. Armstrong erzählt von seiner Arbeit in Sellafield von 1976 bis 1994.
„Souvenir!“, sagt er und greift nach einer alten 3M-Schutzmaske. „Das ist alles, was sie uns verdammt noch mal gaben. Sie sagten nur, dass die Arbeit unsere Spermienzahl beeinflussen könnte. Von Krebs, Herz und Hirnschlag sagte keiner was. Ich war 16, als ich anfing. Ich glaubte ihnen und nahm das Extrageld.“
Zu Armstrongs Aufgaben gehörte, radioaktive Gegenstände zu tragen, „ohne dass es groß Schutzkleidung gab“, erinnert er sich. „Heute wird die gleiche Arbeit von Robotern gemacht.“ 1994 brach Armstrong zusammen und kam mit einer Gehirnblutung ins Krankenhaus, im Alter von nur 34 Jahren. Armstrong schaut auf seine Hände und beginnt aufzuzählen.
„Dwayne, von meinem Team: tot. Jeremy: starke Arthritis. Jam, ich arbeitete mit dem: tot, der hatte einen Hirntumor! Shaun: tot! Steve. Simon. Big Boy. Tex. Marley. Charley Roger, er hatte Herzfehler mit 49: Tot. Eddie, der hatte Krebs und bekam Entschädigung. Duncan, sein Schutzanzug platzte, und er war Uranstaub ausgesetzt.“
Die Gewerkschaft war nicht interessiert, sagt Armstrong. Über Entschädigung musste er sich selbst kundig machen. Er hatte Pech. Obwohl Hirnblutung eine Folge von Radioaktivität sein kann, zählt es nicht zu den von Sellafield anerkannten Arbeitsfolgeschäden. Armstrong glaubt, sobald Mediziner etwas ahnen, werden sie weggeschickt oder unter Druck gesetzt.
„Wenn ich nicht immer so erschöpft wäre, hätte ich mich bei den Nachwahlen selber als Unabhängiger beworben und den Leuten gesagt, was abgeht“, meint Armstrong. „Wenn sie mir von Anfang an die Wahrheit gesagt hätten – ich hätte nie im Leben dort gearbeitet.“ Jetzt habe er weder Kraft noch Geld, um weiterzukämpfen. Gute Tage verbringt er mit Malen.
Zehnmal höhere Leukämierate
Stuart Armstrong ist nicht der Einzige auf der Suche nach Wahrheit im britischen Atomrevier. Die Anti-Atom-Gruppe „Cumbrier gegen eine radioaktive Umwelt“ (CORE) zählt 690 radioaktive Vorfälle zwischen 1950 und 2001. „Am Ende wird alles rauskommen, es ist nur eine Frage der Zeit“, versichern die beiden CORE-Gründer Janine Allis-Smith und Martin Forwood. Sie sind eins von etwa 25 Elternpaaren, deren Kinder um 1980 urplötzlich an Leukämie erkrankten. Die Leukämierate war um Sellafield zehnmal höher als anderswo. Nur die Hälfte der kranken Kinder überlebte. Ihr Sohn gehörte dazu, sie hatten Glück.
Auch an anderen, seltenen Tumoren begannen Menschen hier auffällig oft zu sterben, erinnert sich Allis-Smith. Als Ursache vermutet sie die radioaktiven Abwasser im Meer. Zwar setzt sich Plutonium am Meeresgrund fest, doch löst es sich nach und nach und kehrt an die Strände zurück und von dort mit dem Wind landeinwärts, erläutert sie. „Wir gingen damals wie alle an den Strand“, erzählt Allis-Smith. Auch heute sieht man Eltern mit Kindern und Hunden an Stränden nahe Sellafield.
1992 klagte CORE gegen Sellafield. Ein Gutachter behauptete, die Leukämiefälle würden nicht auf Radioaktivität zurückgehen, sondern auf ein Virus, „das Zugezogene mitbrachten“. Mit dieser Theorie gewann der Atomkraftbetreiber das Verfahren. Seitdem heißt es offiziell, dass kein erhöhtes Krebsrisiko bestehe.
Wahlkreise:Am 23. Februar werden die Abgeordneten der englischen Wahlkreise Copeland und Stoke Central neu gewählt. Zuvor waren beide Labour-Abgeordnete zurückgetreten.
Befürchtungen:Labour könnte beides verlieren – Copeland an die Konservativen, Stoke Central an Ukip. In Stoke würden die Populisten erstmals einen bisherigen Labour-Sitz gewinnen, in Copeland würde erstmals seit 35 Jahren eine Regierungspartei der Opposition einen Sitz abnehmen. (d.j.)
CORE bleibt skeptisch: Zwar würde heute tatsächlich weniger radioaktives Material ins Meer geleitet als früher, aber bei den jährlichen Bodenproben würde man nie tiefer als einen Zentimeter graben. „Die älteren und tiefer liegenden sehr radioaktiven Schichten werden ignoriert“, warnt Allis-Smith: „Bei einer Sturmflut wird das alte Material wieder gelöst.“
Neben CORE gibt es die Gruppe „Radiation-Free Lakeland“ mit 650 Mitgliedern auf Facebook. Sie ist zu einem unangemeldeten Aktionstag in die Fußgängerzone von Workington gekommen, ein Ort nördlich von Whitehaven. Als radioaktive Tonnen verkleidet, sammeln die AktivistInnen Unterschriften für die Offenlegung der lokalen Krebsstatistik. Sie stoßen auf Zurückhaltung: Nach zwei Stunden haben sie ein Dutzend Unterschriften gesammelt.
Natur muss ins Gleichgewicht zurück gebracht werden
Der 41-jährige John, der aus einem Café das Spektakel beobachtet, erklärt das Dilemma. „Meiner Meinung nach ist Atomkraft sicher, denn ich arbeite in Sellafield. Aber Leute wie die da draußen stellen Fragen und gehen denen in Sellafield auf den Keks.“
Ein Kandidat, der Sellafield sicherlich auf den Keks geht, ist Jack Lenox, ein 29-jähriger Softwareentwickler, der für die Grünen antritt. Er stammt aus dem Süden Englands und ist Veganer. Er wäre schon mit 5 Prozent glücklich, sagt er. „Wogegen ich am meisten kämpfe, ist der Glaube, dass es ohne neue Reaktoren keine Jobs in der Region gibt“, sagt er. „Das stimmt nicht. Sellafield wird für viele Jahrzehnte für den Sanierungs- und Abbauprozess Tausende anstellen.“
Der Grüne bemängelt, dass Ausbildungswege in der Region einseitig auf die Bedürfnisse der Nuklearindustrie zielen. „Atomkraft ist keine Lösung“, sagt er. Cumbria müsse seine Natur insgesamt wieder ins Gleichgewicht bringen – es gebe immer mehr Überschwemmungen bei starkem Regen, es sei dringend Wiederaufforstung nötig.
Aber Lenox dringt kaum durch. Nur in der touristischen Marktstadt Keswick findet sich auf den Straßen ein Grünen-Wähler. Dem 23-jährigen Chris Davids geht es um die Cannabis-Legalisierung, nicht um Sellafield. „Denn wenn das explodiert, wird es hier keiner mitbekommen.“
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