Foto: Lucas Vallecillos/VWPics/Redux/Laif

Atombombenabwurf in Japan:Die verstrahlte Gesellschaft

Vor 79 Jahren verseuchten Atombomben Hiroshima und Nagasaki. Seither kämpfen die Japaner mit Erkrankungen – und Politikern, die ihr Leid ignorieren.

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6.8.2020, 08:11  Uhr

Dieser Text erschien erstmals online am 6. August 2020, 75 Jahre nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Auf dem Bürgersteig einer Nebenstraße in der Stadtmitte von Hiroshima markiert eine unscheinbare Gedenktafel das Hypozentrum. 580 Meter über diesem Punkt zündete am 6. August 1945 um 8.15 Uhr die erste jemals im Krieg eingesetzte Atombombe. Ein Foto auf der Tafel zeigt das verwüstete Stadtzentrum unmittelbar nach der Explosion. Ab und an legt dort jemand Blumen für die Opfer ab. Ihre Zahl wird auf 140.000 geschätzt.

Zwei Kilometer Luftlinie von der Tafel entfernt liegt die Forschungsstiftung für Strahlenwirkung (RERF), hier forschen Amerikaner und Japaner gemeinsam. Im Biosamples Center, in einem ihrer Gebäude, lagern über eine Million eingefrorene Blut-, Plasma- und Urinproben von 20.000 überlebenden „Bombenopfern“ – auf Japanisch Hibakusha genannt. Sie werden alle zwei Jahre medizinisch untersucht – eine Langzeitstudie, deren Teilnehmerzahl inzwischen auf 3.000 geschrumpft ist.

Ein Ergebnis bislang: Überdurchschnittlich viele Hibakusha erkrankten an den Folgen der Verstrahlung, vor allem an Krebs. „Der Zusammenhang ist bemerkenswert linear: Je höher die Strahlendosis, desto mehr steigt die Tumorgefahr über das normale Krebsrisiko hinaus“, erläutert Vizeforschungsleiter Eric Grant. Auf den Ergebnissen dieser Langzeitstudie beruhen teilweise die heutigen weltweiten Standards zum Strahlenschutz. Wenn es so etwas überhaupt gibt, könnte man dies das gute Ende der Atombombenkatastrophe nennen.

Doch für die japanische Nation gibt es 75 Jahre danach kein Ende. Die Langzeitfolgen bei den Hibakusha hielt die unterschwellige Angst der Japaner vor Radioaktivität wach. Dann belebte der Reaktorunfall von Fukushima im März 2011 das nationale Trauma. Damals setzten Wasserstoffexplosionen in drei Reaktoren 168 Mal so viel strahlendes Cäsium wie eine Atombombe der Hiroshima-Stärke frei und machten 1.100 Quadratkilometer unbewohnbar. 120.000 Japaner verloren ihre Heimat, eine neue Gruppe Hibakusha entstand. Wie geht die Politik, die Gesellschaft mit ihnen um?

In Fukushima

In Futaba nahe dem AKW Fukushima Daiichi hebt ein Kran Säcke von einem Lastwagen auf das Förderband einer Siebmaschine. Jeder Sack enthält ein Kubikmeter radioaktiv kontaminierte Erde, dazu Äste, Laub und Gras, nach dem Reaktorunfall abgetragen von den Feldern, Spielplätzen und Parks der Sperrzone. Höher verstrahlte Erde kommt auf eine Zwischendeponie in der Nähe. Der Staat versucht, die radioaktive Altlast zu beseitigen, und strebt eine möglichst vollständige Wiederaufbereitung an. Aber die meiste Erde soll für den Anbau von Pflanzen für Wärmekraftwerke und im Straßenbau verwendet werden – und zwar überall in Japan. Gegen diesen Plan haben inzwischen über 3.000 Bürger protestiert. Die Strahlung von Fukushima werde auf diese Weise über das ganze Land verteilt, fürchten sie. Währenddessen gehören über neun Jahre nach der Katastrophe 300 Quadratkilometer Fläche nahe dem AKW weiter zu der „Zone, in die man schwer zurückkehren kann“, wie die verstrahlten Sperrgebiete auf Japanisch wörtlich heißen.

Während Hiroshima und Nagasaki weit zurückliegende Geschichten sind, ist Fukushima sichtbar. An rund 100.000 Stellen auf Feldern und Parkplätzen liegen insgesamt 14 Millionen Säcke, eingeschnürt in meist grüne Plastikplanen, und warten auf ihren Abtransport. 24 Milliarden Euro hat das schon gekostet.

Am Nachmittag des 11. März 2011 löste ein Erdbeben im Nordosten Japans einen Tsunami aus. Das Beben der Stärke 9 und die 14 Meter hohe Tsunamiwelle führten zum Ausfall der Kühlung in vier Blöcken des ufernahen Atomkraftwerks Fukushima Dai­ichi. In drei Siedewasserreaktoren kam es zur Kernschmelze.

Schätzungen zufolge wurden bislang 10 bis 20 Prozent der radioaktiven Strahlung der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 freigesetzt und große Mengen radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer und ins Grundwasser geleitet. Bis zu 150.000 Menschen mussten die Region im Umkreis von 30 Kilometern verlassen. Durch Erdbeben und Tsunami starben 18.500 Menschen. Unmittelbare Todesopfer durch die radioaktive Strahlung gab es nicht, obwohl einige Arbeiter hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt waren. Eine Studie von 2015 kommt auf geschätzte 730 bis 1.260 Todesfälle aufgrund von Krebserkrankungen sowie Evakuierungs- und Arbeitsunfällen im Zusammenhang mit der Atomkatastrophe.

Inzwischen hat die Regierung die Evakuierungsanordnungen für viele Gemeinden nahe der Atomruine aufgehoben, nachdem die oberste kontaminierte Erdschicht abgetragen wurde. 40.000 frühere Anwohner sind nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Auf dem Atomkraftwerksgelände lagern in riesigen Wassertanks 1,2 Millionen Tonnen verseuchtes Wasser, das zur Kühlung benutzt wurde und wahrscheinlich verdünnt noch ins Meer entsorgt wird. Der Rückbau der Atomruine wird noch Jahrzehnte dauern. Der Atombetreiber Tepco hofft, mit der Bergung des geschmolzenen Brennstoffs aus den Reaktoren im Jahr 2021 beginnen zu können.

Der GAU von Fukushima hat weltweit Atomkraftgegner gestärkt und in mehreren Ländern, darunter Deutschland, zur Abkehr von der Atomenergie geführt. (han)

Osamu Saito ist Arzt. Er ist aufgewachsen in Fukushima, hat dort seinen Beruf erlernt, dann arbeitete er in Hirsohima und betreute dort viele Hibakusha. Er ist auf Leukämie spezialisiert, die typische Krankheit von Atombombenopfern. Heute ist er 73 Jahre alt und sagt: „Die Waffe von 1945 wirkt jetzt schon seit 75 Jahren.“ Und: „Die Überlebenden tragen die Folgen in ihrem Körper und ihrer Seele.“

Im Jahr 2009 kehrte Saito in seine Heimat Fukushima zurück und begann in einem Krankenhaus für Kooperativenmitglieder zu arbeiten. Dann kam der Reaktorunfall und Saito vereint wie nur wenige die Atombombe und den Reaktorunfall in seiner eigenen Biografie.

Der Arzt Osamu Saito sagt: „Die Überlebenden tragen die Folgen in ihrem Körper und ihrer Seele“ Foto: Takao Suzuki

Als Patienten kämen auch viele geflüchtete AKW-Anwohner, erzählt Saito. „Die Evakuierung hat viele Familien auseinandergerissen. Der Bruch menschlicher Bindungen und die Ungewissheit über ihre Zukunft machen es für diese Menschen schwierig, ihr Gesundheitsrisiko nüchtern zu betrachten.“ Er nennt das den „Fluch der Strahlendosis“, er reicht weit über die gesundheitlichen Sorgen hinaus und in die tiefsten Winkel des Zusammenlebens hinein: Strahlenopfer finden keine Arbeit, keine Partnerschaften, keine Fürsorge beim Staat.

In Hiroshima

Die stärkste Parallele zwischen Hiroshima und Fukushima zeigt sich im Umgang mit den Strahlenopfern. Bei den Untersuchungen im Vorgängerinstitut der heutigen Forschungsstiftung RERF behandelten die Forscher Explosionsopfer wie Beobachtungsobjekte. Sie wurden vermessen, fotografiert, angeschaut, aber nicht ärztlich behandelt. Dafür entschuldigte sich der heutige RERF-Präsident Otsura Niwa erst vor drei Jahren. „Wir haben nicht daran gedacht, dass wir eine Beziehung zu unseren menschlichen Forschungsobjekten hätten aufbauen müssen“, räumte Niwa ein.

Zwölf Jahre brauchte der japanische Staat, bis man im Medizingesetz von 1957 die Existenz der Hibakusha anerkannte und sie finanziell unterstützte. Für Hibakusha entfällt die in Japan übliche Selbstbeteiligung von 30 Prozent an Arzt- und Arzneikosten. Eigentlich. Aber 300 Euro monatlich erhalten sie nur, wenn sie an elf genau festgelegten Krankheiten leiden. 1.200 Euro Sozialhilfe je Monat gibt es, falls sich die Krankheit direkt auf die Strahlung zurückführen lässt – was selten eindeutig gelingt. Gerichte lehnen statistisch gesehen vier von fünf Klagen auf diese Hilfe ab. Wer die Atombomben außerhalb willkürlich festgelegter Gebiete nahe dem Hypozentrum überlebte, erhält gar kein Geld. Selbst dann nicht, wenn typische Strahlenkrankheiten auftreten.

Erst vergangene Woche korrigierte ein Bezirksgericht zum ersten Mal diese Praxis. Die 84 Kläger hätten Anspruch auf die kostenlose Gesundheitsversorgung, lautete das Urteil des Richters in Hiroshima, ihre Erkrankungen deuteten auf Verstrahlung hin. Doch der japanische Staat wird wohl hart bleiben und in die nächste Instanz gehen.

Dabei weiß man schon lange, dass der Fallout radioaktiver Teilchen durch den sogenannten schwarzen Regen nach den Atombomben weite Gebiete kontaminierte. Der Teilchenphysiker Shoji Sawada, ein Überlebender der Hiroshima-Bombe, hatte die sekundäre Verstrahlung als Erster bewertet. Der Staat habe die Gesundheitsfolgen des Fallouts ignoriert, berichtet Sawada bei einem Treffen nahe dem Bahnhof von Nagoya. Früher war er Professor an der Universität, heute leitet er mit 88 Jahren den „Japanischen Rat gegen A- und H-Bomben“, Gensuikyo, eine Nichtregierungsorganisation, die gegen Atomwaffen kämpft. Was er sagt, bedeutet: die Atombomben haben viel mehr Japanern geschadet als offiziell anerkannt.

Die Forschungsstiftung RERF in Hiroshima hat ihre Schätzungen für die radioaktive Belastung durch den Fallout inzwischen korrigiert. Aber die Regierung hält an ihrer alten Bewertung fest, dass der Fallout als Gesundheitsgefahr zu vernachlässigen sei. Der Teilchenphysiker Sawada sagt: „Die Regierung schweigt wegen der USA, die nicht zugeben wollen, dass der Fallout ihrer Atombombentests auch viele Soldaten und Unbeteiligte verstrahlte.“

Die Auseinandersetzung um die Strahlendosis in Japan nimmt manchmal absurde Züge an. Anfang März trat Shunichi Yamashita vor einem Gericht als Zeuge auf. Eine Bürgergruppe hatte den Staat in dem Verfahren auf eine strahlungsfreie Umgebung verklagt. Yamashita ist emeritierter Professor der Universität Nagasaki und Sohn einer Hibakusha. Kurz nach dem Reaktorunfall in Fukushima hatte er als Therapie gegen Verstrahlung positives Denken empfohlen: „Solange Sie lächeln, wird die Strahlung Ihrer Gesundheit nicht schaden, aber wenn Sie nicht lächeln, dann werden Sie krank“, erklärte der Mediziner. Er war damals Berater der Bezirksregierung.

Im Zeugenstand klang der Professor kleinlauter. Seine Angaben hätten internationalen Einschätzungen widersprochen und auf der Annahme beruht, dass die Strahlung nur eine kurze Zeit wirke, gab Yamashita zu. Später schrieb die Bürgergruppe über die Anhörung: „Er sprach so schnell und leise, dass man seine letzten Wörter kaum verstehen konnte.“ Für sie bedeutet es viel, einen Leugner der Strahlungsgefährdung zu entwaffnen.

Der Krebs

Am 6. August 1945 warf der US-amerikanische B-29-Bomber „Enola Gay“ um 8.15 Uhr über dem westjapanischen Hiroshima aus 8.500 Metern Höhe die erste Atombombe ab. Die 4.040 Kilogramm schwere Bombe „Little Boy“ (Sprengkraft: 12,5 Kilotonnen; Sprengstoff: Uran-235) explodierte in 580 Metern Höhe über dem Zentrum der 350.000-Einwohner-Stadt. Die pilzartige Wolke der Explosion stieg 12.000 Meter hoch. Ein Drittel der freigesetzten Energie bestand aus Hitze, die Hälfte aus Druck und 15 Prozent aus radioaktiver Strahlung.

Die Druckwelle zerstörte alle Gebäude in einem Kilometer Umkreis, im Fünf-Kilometer-Radius noch zwei Drittel. Der folgende Feuersturm verbrannte alles. Insgesamt wurden 70.000 Häuser zerstört. Die radioaktive Strahlung war im Umkreis von 900 Metern nach wenigen Tagen tödlich. In größerem Abstand führte sie zu diversen Krankheiten, die später auftraten und meist zum frühzeitigen Tod führten. Eine halbe Stunde nach der Explosion setzte sogenannter schwarzer radioaktiver Regen ein.

Am 9. August warf die B-29 „Bock’s car“ die zweite Atombombe „Fat Man“ (Sprengkraft: 22 Kilotonnen; Sprengstoff: Plutonium-239) auf Nagasaki. Dort lebten 240.000 Menschen. Da die Wolken dicht waren, wurde das Zentrum um mehrere Kilometer verfehlt. Weil das Stadtgebiet hügeliger als in Hiroshima ist, war die Druckwelle kleiner und es gab weniger Opfer.

Bis Dezember 1945 starben in Hiroshima 140.000 Menschen, in Nagasaki 70.000 bis 80.000. Die militärische Notwendigkeit der Bomben ist umstritten: Hiroshima und Nagasaki waren zuvor von konventionellen Angriffen der US-Amerikaner ausgenommen worden, um den Effekt der Atombombe auf eine Großstadt testen zu können.

US-Präsident Harry Truman rechtfertigte sich später damit, dass die Atombomben eine verlustreiche Invasion in Japan überflüssig gemacht und so 500.000 US-Soldaten das Leben gerettet hätten. Diese Größenordnung hatte zuvor niemand genannt. (han)

In Fukushima traten 90 Prozent weniger Radioaktivität aus als in Tschernobyl. Aber seit dem sowjetischen Super-GAU weiß man, dass sich radioaktives Jod in den Schilddrüsen vor allem von Kindern und Teenagern sammeln und dort Krebs verursachen kann. Besonders Mädchen unter fünf Jahren sind gefährdet. Daher werden seit dem Atom­unfall die Schilddrüsen von 300.000 Kindern und Jugendlichen in Fukushima, die damals unter 18 Jahre alt waren, alle zwei Jahre untersucht. 186 Fälle wurden schon gefunden, viel mehr als erwartet.

Seit dem Reaktorunfall werden in Fukushima 300.000 Kindern alle zwei Jahre untersucht Foto: Kim Kyung-Hoon

„Meiner Tochter musste die Schilddrüse entfernt werden, seitdem ist ihre Stimme geschädigt und ihr Nacken steif, sie konnte nicht mehr zu Schule gehen“, berichtete ein Vater in einem Video, das eine Gruppe betroffener Familien auf Youtube vor drei Jahren veröffentlicht hat. Der Mann verbarg sein Gesicht und sprach mit verzerrter Stimme aus Angst davor, dass sein Kind diskriminiert wird.

Die Behörden sehen die hohe Zahl der Krebsfälle als eine Folge des Massenscreenings mit modernsten Geräten und wollen die Zahl der Untersuchungen bald verringern. „Wie können sie dies wagen, ohne die Ursache der Krebsfälle zu finden?“, klagte der Vater.

Die zweite Generation

Das durchschnittliche Alter der Hibakusha ist inzwischen auf über 83 Jahre gestiegen. Doch die Forschungsstiftung für Strahlenwirkung in Hiroshima will noch einige Jahrzehnte weitermachen, da sie auch ausgewählte 77.000 Kinder der Bombenopfer bis an ihr Lebensende beobachten soll. „Es gab eine große Furcht, dass die nach der Bombe gezeugten Kinder genetische Effekte zeigen würden, so wie man es auch im Tierreich beobachtet hat“, sagt RERF-Vizeforschungschef Grant. Bisher sieht es danach aus, als ob genetische Schäden nicht vererbt wurden.

Katsuhiro Hirano leitet einen Verband für Hibakusha-Nachkommen in Hiroshima. Im Videointerview spricht der 62-Jährige über die Belastung der zweiten Generation. Er sagt: „Unsere Mitglieder spüren aufgrund ihrer Prägung einen starken inneren Widerwillen gegen radioaktive Strahlung.“

Er schildert seine eigene Geschichte: Die Mutter wurde als Mädchen verstrahlt, als sie am Tag nach dem Bombenabwurf ihre Schwester in Hiroshima besuchte. Von seinen drei Geschwistern sind zwei früh gestorben, ein Cousin litt an Leukämie. Und dann ist da noch die Sprachlosigkeit. Das erste Gespräch über radioaktive Strahlung führte Hirano mit seiner Mutter erst, als er schon 45 Jahre alt war. „Unsere Generation hat oft kein Bewusstsein dafür, dass sie auch Opfer ist“, betont Hirano. „Viele Eltern haben die Tatsache der Verstrahlung vor ihren Kindern verborgen, damit sie nicht genauso diskriminiert werden wie die erste Generation.“ Auch Kinder hätten soziale Ausgrenzung erlebt, aber schwerer wiege ihre psychische Dauerbelastung: „Wir können uns doch niemals sicher sein, ob unsere Gesundheit nicht doch gefährdet ist“, betont Hirano.

Mit dem Geigerzählen versuchen Anwohner in Fukushima zu messen, wie stark sie gefährdet sind Foto: Issei Kato

Daher verlangen er und einige Mitstreiter für die Angehörigen der zweiten Generation die gleichen Hilfen wie für die Hibakusha. Die Politik lehnte die Forderung ab. Deswegen haben insgesamt 54 Betroffene, je zur Hälfte aus Hiroshima und Nagasaki, den Staat vor drei Jahren verklagt, der Prozess läuft noch. Die Ironie der Geschichte: Ungefähr zur selben Zeit klagten auch evakuierte AKW-Anrainer in Fukushima auf mehr staatliche Unterstützung. Hirano sagt: „Bei beiden Gruppen wird die negative Wirkung der Strahlung weder geleugnet noch bestätigt. In dieser Unklarheit leben beide mit der Diskriminierung von außen und der Angst von innen.“

Die Regierung

Durch die Verstrahlung weiter Landstriche in Fukushima schloss sich ein Kreis zu den Atombomben von damals. Die Hibakusha-Vertreter hatten sich nämlich ab den 1950er Jahren in Bürgeranhörungen davon überzeugen lassen, der friedlichen Nutzung der Kernspaltung zuzustimmen: Japanische Atomkraftwerke seien sicher, Strahlung könne nicht austreten, wurde ihnen versprochen. Dieser Propaganda glaubten die meisten Japaner, bis die Fukushima-Meiler durchbrannten. „Wir haben uns diese Katastrophe niemals vorstellen können“, gesteht Terumi Tanaka, Überlebender der Nagasaki-Bombe und langjähriger Generalsekretär des Hibakusha-Verbandes Nihon Hidankyo.

Erst nach dem Reaktorunfall forderte die Gruppe den Ausstieg aus der Atomkraft. Inzwischen sieht der 88-Jährige bei einem Treffen in Tokio die Verbindungen zwischen Hiroshima und Fukushima immer deutlicher: „Entgegen unseren Forderungen hat die Regierung die wissenschaftliche Untersuchung der Strahlenfolgen von Atom­unfall und Atombomben an lokale Behörden delegiert, die aber nicht darüber informieren“, sagt Tanaka. „Nun wissen die Opfer nicht, was das radioaktive Material in ihren Körpern macht.“

Noch eine absurde Tatsache: Auf der Basis der Forschung an den Hibakusha haben Japan, Deutschland und viele andere Länder einen Grenzwert von einem Millisievert jährlich über die natürliche Belastung hinaus eingeführt. Doch für die kontaminierten Gebiete rings um die AKW-Ruinen in Fukushima hob die japanische Regierung diesen Grenzwert willkürlich auf 20 Millisievert jährlich an. Das Kalkül der Behörden: Sie streicht den Evakuierten die monatliche Hilfszahlung von 800 Euro, nachdem ihr alter Wohnort wieder zur Besiedlung freigegeben worden ist. Auch kämpfen viele ehemalige AKW-Anwohner vor Gericht bisher vergeblich für einen Ausgleich des Wertverlusts ihrer Häuser und Grundstücke.

Der Arzt Osamu Saito aus Fukushima sieht nur einen Weg, damit die traumatischen Strahlenwunden seines Landes heilen: „Der Staat muss sich für Atombomben und Reaktorunfall entschuldigen und alle Betroffenen voll entschädigen – das ist das Minimum.“

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