Armut in den USA: Den Reichen den Reichtum sichern
Soziologe Matthew Desmond untersucht in seinem Buch die Armut in den USA. 38 Millionen Menschen können dort ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen.
Kaum ein Gangsterfilm ist so sehr in der Zeit verortet, in der er spielt, wie Andrew Dominiks „Killing them softly“ von 2012. Der Film beginnt am 28. August 2008, als Barack Obama gerade zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten ernannt wurde, und endet am 4. November mit dessen Antrittsrede. Im Zentrum steht Jackie Cogan, ein abgeklärter Auftragsmörder, gespielt von Brad Pitt, der in der Mafia „aufräumen“ muss.
Am Ende des Films sitzt er mit seinem Auftraggeber an einem Bartresen. Es geht um seine Bezahlung. Im Hintergrund schallt Obama aus dem Fernseher. Wortfetzen über den amerikanischen Traum, die Freiheit und Gleichheit aller sind zu vernehmen.
Jackie hält Obamas Pathos nicht mehr aus: „Dieser Kerl will mir weismachen, dass wir in einer Gemeinschaft leben? Dass ich nicht lache! Ich lebe in Amerika, und in Amerika bist du allein. Amerika ist kein Land, Amerika ist nur ein Business. Und jetzt bezahlst du mich, verdammt noch mal!“
Der amerikanische Soziologe Matthew Desmond drückt sich zwar etwas geschliffener aus, um zu beschreiben, in welcher fulminanten Schieflage sich das Land seit Jahren befindet. Doch auch er formuliert den Zustand der USA auf drastische Weise: „Das sind die Vereinigten Staaten: das reichste Land der Erde, aber mit mehr Armut als jede andere Demokratie.“ Das schreibt er in seinem Buch „Armut – eine amerikanische Katastrophe“, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt und, ein Wink der Ironie, auf Barack Obamas Leseliste 2023 steht.
38 Millionen
Im Vorwort veranschaulicht Desmond sogleich die himmelschreiende Ungerechtigkeit des Landes. 38 Millionen Menschen können nicht ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Mehr als eine Million Kinder im schulpflichtigen Alter sind wohnungslos. Häftlinge merken nach Haftantritt, dass sich ihr Gesundheitszustand verbessert, weil es ihnen draußen noch schlechter ging als im Gefängnis.
Matthew Desmond: „Armut. Eine amerikanische Katastrophe“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, 304 Seiten, 20 Euro
Wie kann es also sein, dass in einem Land, dessen Bruttoinlandsprodukt höher ist als das von Japan, Deutschland, Großbritannien, Indien, Frankreich und Italien zusammengenommen, eine solche Armut vorherrscht? Matthew Desmond, Soziologe an der Princeton University, möchte dem nachgehen.
Denn, so schreibt er, unzählige Bücher haben sich zwar mit dem Wesen von Armut beschäftigt, aber keines von ihnen beantwortet die Frage, warum sie überhaupt existiert. Er fordert eine Verschiebung der Perspektive: „Diejenigen von uns, die im Wohlstand leben, müssen den Blick auf sich selbst richten.“ Das macht er mit einer Fülle an Daten und Fakten, die er in seiner wütenden Anklageschrift darlegt.
Eine von linker Seite oftmals angeführte Erklärung für die Ursachen der Armut lautet „Neoliberalismus“. Desmonds Daten sprechen jedoch dagegen: „Im Staatshaushalt hat er keine Spuren hinterlassen, zumindest nicht in der Armutsbekämpfung. Es gibt keinen Hinweis, dass die Vereinigten Staaten geiziger geworden wären.“
Armutsforscher Matthew Desmond
Die Sozialausgaben sind zwar im Laufe der Jahre weiter gestiegen, das Geld wird jedoch für allerlei Projekte verwendet, die nichts mit Armutsbekämpfung zu tun haben oder es kommt nur jenen zugute, die gar nicht arm sind: „Die größten Summen werden nicht darauf verwendet, Arme aus der Armut zu führen, sondern darauf, Reichen den Reichtum zu sichern.“
„Weil einige Leute es so wollen“
„Armut besteht fort“, schreibt Desmond, „weil einige Leute es so wollen.“ Das zeigt sich auch im Niedergang der Gewerkschaften und der damit einhergehenden Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Nur 10 Prozent der Arbeitnehmer*innen sind gewerkschaftlich organisiert.
Hinzu kommt die geballte Macht der Konzerne, vor allem jene der Gig-Ökonomie, die mit ihrem Einfluss konsequent die Arbeitsschutzgesetze schleifen. So geben Meta, Amazon und Comcast mehr Geld für ihre Lobbyarbeit aus als sämtliche Gewerkschaften zusammen.
Desmond zählt einen skandalösen Missstand nach dem anderen auf. Das kann in der Fülle ermüdend wirken, doch die Fakten machen immer wieder fassungslos. Wie die Tatsache, dass Banken und Kreditgeber die Armen jeden Tag mit 61 Millionen Dollar an Überziehungs-, Scheckgebühren und Wucherzinsen schröpfen.
Oder die massive Steuerflucht global agierender Firmen: Jedes Jahr gehen dem amerikanischen Staat rund eine Billion Dollar durch die Lappen. Desmonds Berechnungen zufolge müsste der Staat 177 Milliarden Dollar aufwenden, um die Armut zu beseitigen. Das wären weniger als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und „weniger als der Wert der Lebensmittel, die Amerikaner Jahr für Jahr wegwerfen“.
Umbau des Sozialstaates
Seine Lösungsansätze klingen angesichts dieses politisch gewollten Irrsinns äußerst harmlos. Oder einfach nur realistisch. Denn er betont, man kann nur Maßnahmen umsetzen, die auf eine breite Unterstützung stoßen: „Ich verlange nur, dass die Reichen ihre Steuern bezahlen. Ich verlange einen Umbau unseres Sozialstaats. Ich verlange, dass die Vereinigten Staaten so viel in das Gemeinwohl investieren, wie sie es früher getan haben. Ich verlange mehr Unterstützung für die Armen und weniger Unterstützung für die Reichen.“
Und solange das nicht der Fall ist, bleiben die USA in der Hinsicht wohl das, was sie sind: eine amerikanische Katastrophe.
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