Ariel Scharon ist tot: Der Bulldozer rollt nicht mehr
Er schritt über Schlachtfelder und rote Teppiche. Nach acht Jahren im Koma ist Israels Ex-Ministerpräsident Ariel Scharon nun im Alter von 85 Jahren gestorben.
JERUSALEM taz/dpa/ap | Ein solches Ende mögen ihm selbst seine schlimmsten Feinde nicht gewünscht haben. Fast auf den Tag genau acht Jahre lang lag Ariel Scharon im Koma. Am 11. Januar verstarb der ehemalige General und Ministerpräsident Israels, der über Jahrzehnte die Politik seines Landes mitbestimmt hatte, schließlich in einem Krankenhaus bei Tel Aviv im Alter von 85 Jahren. In den vergangenen Tagen hatte sich sein Zustand nach dem Versagen mehrerer Organe bereits deutlich verschlechtert.
Nicht sein früherer Parteifreund Benjamin Netanjahu wird um ihn trauern, sondern Staatspräsident Schimon Peres von der Arbeitspartei, der ihm ungeachtet ihrer politischen Differenzen über Jahrzehnte ein enger Freund war. „Mein lieber Freund, Ariel Scharon, hat heute seinen letzten Kampf verloren“, erklärte Präsident Schimon Peres. „Ariel war ein tapferer Soldat und kühner Führer, der seine Nation liebte und seine Nation liebte ihn.“
Ohne Rücksicht auf Verluste war der „Bulldozer“ nach vorn geprescht, wenn es galt, Terroranschläge zu rächen oder in Feindesland vorzustoßen, wenn zigtausende Wohnungen für die nach Israel strömenden russischen Einwanderer gebaut werden mussten, oder um Siedlungen zu errichten und später genauso, um sie wieder abzureißen.
Doch ganz ähnlich wie einst Regierungschef Yizhak Rabin im Alter umdachte, wurde der Falke Scharon in seinen letzten Wirkungsjahren zahm. „Keine einzige Siedlung wird geräumt, denn ein Abzug würde nur den Terror ermutigen“, meinte er noch im April 2002.
Abzug aus dem Gazastreifen
Kaum ein Jahr später zeigte er sich doch überzeugt davon, dass „es langfristig für Israel besser ist, wenn es keine jüdischen Siedlungen im Gazastreifen gibt“. Scharons Abzug aus dem Gazastreifen sollte der Anfang vom Ende der israelischen Besatzung sein, eine „historische Entscheidung“ jubelte Ex-Justizminister Tommi Lapid damals, die „wichtiger als der Friedensvertrag mit Ägypten“ sei.
Trotz Abzug blieb der Frieden aus, und trotz Abzug wird ihn die Nachwelt eher aufgrund seiner unterlassenen Hilfeleistung für die palästinensischen Flüchtlinge in Sabra und Shatilla im Jahr 1982 (s. unten) erinnern als für die Aufllösung von Siedlungen. Scharon war ein Mensch, der Emotionen auslöste – gute wie schlechte. Mit schweren Schritten stapfte der hochgewachsene, übergewichtige Soldat und Politiker mal über blutige Schlachtfelder, mal über rote Teppiche. Aus der „persona non grata“ von einst war gegen Ende seiner politischen Karriere einer der respektiertesten Gäste nicht nur im Weißen Haus geworden.
„In der Galerie der großen israelischen Regierungschefs in der Geschichte Israels reiht sich Arik (Ariel) in die mythologischen Figuren wie David Ben-Gurion, Menachem Begin und Yizhak Rabin ein“, schrieb Tommi Lapid über seinen nicht immer gut gelittenen Freund, kurz nach dessen Erkrankung. „Die Geschichte des Jungen aus dem Moschaw Kfar Malal ist auch die israelische Sage der Armee und Eretz Israel, von Blut und Erde.“
Der junge Ariel Scheinerman im jüdischen Untergrund
Als Ariel Scheinerman kam er 1928 im damals britischen regierten Palästina zur Welt, schloss sich schon als junger Mann dem jüdischen Untergrund an und organisierte die Haganah, aus der später die Israelische Verteidigungsarmee wurde. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 wurde er zum ersten Mal lebensbedrohlich verletzt. Rang und Namen verschaffte er sich mit seiner berüchtigen Einheit 101, eine Gruppe gnadenloser Rowdys, die auszogen, um arabische Überfälle zu rächen, und die dabei auch Frauen und Kinder nicht verschonten.
Im Verlauf des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967 errang der auf Anraten Ben-Gurions inzwischen auf Scharon umgenannte Soldat den Rang des Brigadegenerals und kommandierte die Einheit, die Ost-Jerusalem stürmte. Er war dabei als Israel die Altstadt eroberte, die symbolträchtigste Trophäe, die Helden machte.
Sieben Jahre später wurde Scharon im Auftrag des Likud, den er selbst mitformiert hatte, zum ersten Mal ins Parlament gewählt und schon bald darauf rief ihn Regierungschef zu sich ins Kabinet. Gemeinsam trieben die beiden Männer den Frieden mit Ägypten voran. Scharon war damals für die Auflösung der jüdischen Siedlungen auf der Sinai-Halbinsel verantwortlich.
Das dunkelste Kapitel
Gemeinsam begannen Begin und Scharon 1982 den Libanonfeldzug. Es ist das dunkelste Kapitel Scharons, der die Schlachten als Verteidigungsminister über weite Strecken hinter dem Rücken Begins führte. Ziel war, die PLO soweit zurückzutreiben, dass sie Israel nicht länger gefährlich werden konnte. Der Feldzug endete mit dem von christlichen Milizen verübten Massaker in den beiden palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatilla bei Beirut, dem Scharon keinen Einhalt gebot. Ein israelisches Militärtribunal sprach ihn indirekt für das Massaker verantwortlich. Scharon durfte das Amt des Verteidigungsministers nicht mehr ausüben.
Das Urteil schien das politische Aus für Scharon zu bedeuten, doch schon Anfang der 90er Jahre stand er wieder im Dienst des Staates, als er unter dem konservativen Yizhak Schamir ins Bauminsterium beordert wurde. Der „Bulldozer“ hatte eine neue Aufgabe. Innerhalb kürzester Zeit schaffte er Wohnraum für hunderttausende Immigranten aus den ehemaligen Sowjetstaaten. 1998 machte ihn sein späterer partei-interner Erz-Rivale Netanjahu zum Außenminister. Scharon übernahm den Parteivorsitz nach der Wahlschlappe 1999, und schon zwei Jahre später schaffte er den Sprung ins höchste Regierungsamt.
Zu diesem Zeitpunkt wütete die Zweite Intifada, die Scharon selbst mit ausgelöst hatte, als er umgeben von hunderten Sicherheitsleuten den Tempelberg besuchte. In Reaktion auf den Terror schickte er die Armee in die palästinensischen Flüchtlingslager und seinen jahrzehntelangen Erzrivalen Jassir Arafat in die Muqataa, das Hauptquartier des Palästinenserpräsidenten.
„Wollt ihr ewig in Jenin bleiben?“
Als Scharon die Tonart wechselte, wusste niemand recht, ob er es erst meinte. „Wollt ihr denn ewig in Jenin bleiben?“, fragte er im Mai 2003 die Mitglieder der Likudfraktion: „Die Besatzung von 5,3 Millionen Palästinensern fortsetzen, das ist eine schlechte Idee, schlecht für Israel und schlecht für die Palästinenser.“
Der Überraschung folgte Skepsis, und schließlich änderten sich die Fronten: Israels Linke unterstützte die Regierungspolitik mit Massenkundgebungen, während sich die Siedler im Gazastreifen für den Widerstand gegen die von Scharon geplante Evakuierung bereitmachten.
Der Likud kam mit dem Umdenken des Chefs nicht mit, und schon wenige Monate nach dem Abzug spaltete Scharon seine alte Bewegung, um die liberale Kadima zu gründen, der er bis zu seiner Erkrankung wenig später vorstand. „Ich bin sicher, dass ich das überstehe“, glaubte Scharon noch nach seinem ersten leichten Schlaganfall, doch schon zwei Wochen später, am 4. Januar 2006, beförderte ihn eine Hirnblutung in ein Koma, aus dem er nicht wieder erwachen sollte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles