Ariel Pinks politischer Fehltritt: Vom Schock, Vinyl einzustampfen
Der US-Musiker Ariel Pink nahm am Sturm auf das Kapitol teil. Was das für die Musik-Community bedeutete, versucht der Musiker Jason Grier auszuloten.
Bei einer mehr als 10.000 Teilnehmer zählenden Demonstration in der US-Hauptstadt Washington am 14. November 2020, wenige Tage nach der Präsidentschaftswahl, war ein riesiges Banner über die „Black Lives Matter“-Plaza gespannt: Seine Parole „Trump Law and Order“ verdeckte den Slogan „Black Lives Matter“.
Empfohlener externer Inhalt
Bekanntlich hatte der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, zuvor die Wahlen gegen Trump gewonnen. Aber Trump und seine Gefolgsleute wollten ihre Niederlage partout nicht anerkennen. Die säbelrasselnde Symbolpolitik, die das Trump-Banner zum Ausdruck brachte, war beispielhaft für das Selbstverständnis vieler Konservativer in den Wochen nach der Wahl. So brachten sie ihr Missfallen an der Demokratie zum Ausdruck.
Wenn ich hier „zum Ausdruck bringen“ schreibe, dann, um den Euphemismus solcher Worthülsen zu parodieren. Denn, man kann nur mit dem Begriff „eskalierende politische Gewalt“ umschreiben, was sich damals im Land zusammenbraute. Das republikanische Dauertrommeln dröhnte täglich härter und schneller, es war Vorspiel für einen Tag X, begleitet von unversöhnlichen Aufrufen zur direkten Aktion gegen das Ergebnis einer demokratischen Wahl.
Und dann entlud sich die Gewalt. Am 6. Januar 2021 wurden die Türen des Kapitols nach einem Aufruf von Trump bei einer Kundgebung in der Hauptstadt von rechten Demonstranten mit Gewalt gestürmt. In der Folge jenes unseligen Tages starben fünf Menschen. Es war ein unvermeidliches Crescendo, in dem die 53 Tage nach dem Wahldienstag kulminierten.
Sozialpolitisches Harakiri der USA
Der Unterschied zwischen einem Euphemismus und seinem scharfkantigen Cousin, der Wahrheit – oder was manchen mehr behagt, der Unterschied zwischen der Wahrheit und ihrem verleumderischen Cousin, der Anschuldigung, drückt der US-Gegenwart einen negativen Stempel auf. Es ist eine Gegenwart, die nicht erst an jenem 6. Januar 2021 implodiert ist. Wenn die USA ihr sozialpolitisches Harakiri der letzten Jahre beibehalten, wird dieser 6. Januar eines Tages zum Nationalfeiertag erklärt werden müssen.
Stellen Sie sich für einen Moment vor, wie so ein Feiertag begangen werden könnte? Welche Geschichten sollen geschildert werden? Und was würden sie über diejenigen besagen, die die Ereignisse herbeigeredet haben? Wer würde an den Feierlichkeiten teilnehmen wollen?
Ein ehemaliger Künstler meines unabhängigen Labels HEM wähnt sich bestimmt unter den Ehrengästen. Der kalifornische Musiker Ariel Pink war beteiligt an den Ereignissen im Januar 2021. Es ist bekannt, dass er am 5. Januar an den rechten Protesten bei der Freedom Plaza teilnahm, gleich neben dem Weißen Haus.
ist US-Klangkünstler und Kurator. Er lebt und arbeitet in Berlin. Sein Label HEM hat er 2006 gegründet.
Als herauskam, dass er aus diesem Grund nach Washington gereist ist, habe ich seine Arbeiten aus dem HEM-Labelkatalog unverzüglich entfernt. Diese Entscheidung war für mich durchaus bitter, und auch viel komplizierter als gedacht, weil Ariel Pink auch an Projekten mit anderen Künstler:Innen beteiligt war.
Was sich vorher wie ein Netzwerk anfühlte, das durch Kollegialität und im Mentoringprinzip funktionierte, wurde durch Pinks Rechtswende zum Gegenstand eines düsteren Selbstreinigungsprozesses, dem es sich als beschädigte Community unterziehen musste. Diese Neuaufstellung eines kleinen US-Indielabels entspricht – das ist meine Hoffnung – auf einer Mikroebene dem Heilungsprozess, dem sich die US-Gesellschaft in einem viel größeren Rahmen dringend stellen muss.
Im Verlauf dieser Aufräumarbeiten tauchten viele Fragen auf. Am relevantesten bleibt diejenige, wie wir zukünftig überhaupt Teilnahme am Protest definieren. Ist Protest grundsätzlich friedfertig und sind alle ihn schmähenden Aspekte nur Zusätze oder Erweiterungen? Oder kann Vehemenz auch Protest untermauern, auf eine Art, die jede Form von Partizipation per definitionem gewalttätig macht? Ist es möglich, dass diejenigen von uns, die am sichtbarsten sind, nur passiv bleiben? Oder nehmen sie ohnehin stärkeren Einfluss? Mit anderen Worten: Was bedeutet Protest im Zusammenhang mit Gewalt, und ändert sich etwas an ihm, wenn daran bekannte Persönlichkeiten beteiligt sind?
Wer ist das „wir“ auf der Straße
Viele TeilnehmerInnen des 6. Januar behaupten, so wie Ariel Pink auch immer wieder beteuert hat, ihr Mitwirken sei per se noch nicht gewalttätig gewesen. Sie schränken das Ausmaß ihrer eigenen Beteiligung und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, ein und verhindern damit, dass die Reaktion der Community auf das, was in jenen dunklen Stunden in Washington tatsächlich an Gewalt vorgefallen ist, gerecht und fair ausfällt. Und doch hat sich die Musikszene, in der auch ich mich bewege, einstimmig (und, wie ich finde korrekt) in der Beurteilung dafür entschieden, bei den Vorfällen als Ganzes zu bleiben.
In ihrem Essay, “Notes Toward a Performative Theory of Assembly“ fragt die US-Philosophin Judith Butler: “Woher wissen wir eigentlich, wer genau dieses ‚wir‘ ist, das sich auf den Straßen versammelt? Kann eine Versammlung dem Willen der Menschen überhaupt Ausdruck verleihen?“ Ich formuliere Butlers Frage um: Woher wissen wir, dass ein Künstler für andere Menschen spricht?
Die Antwort ist kompliziert, auch weil es schwer fällt, diese Frage auf universelle Weise zu beantworten, denn ein Künstler trägt scheinbar keine Verantwortung dabei, „das Volk“ zu vertreten. Vielleicht fällt eine Antwort leichter, wenn der Künstler berühmt ist und auf die eine oder andere Weise andere Menschen in seinem Tun aktiv beeinflusst.
Für mich persönlich war die Antwort daher absolut einschätzbar. Ich kann es nicht mehr vor meinen Verwandten verantworten, warum ich dem Künstler Ariel Pink weiterhin Unterschlupf gewähre, dessen Musik von einem rassistischen TV-Sender zum Spendensammeln verwendet wird. Ich kann vor einer jungen Künstlerin, die mir ein Demotape schickt, nicht bestehen, wenn ich weiterhin mit ihm Geschäfte mache, der frauenfeindliche Äußerungen von Dritten gutheißt. Also, auf diesem Level war für mich die Beendigung der Zusammenarbeit mit Ariel Pink, wie für andere auch, sehr einfach.
Aber generell stellt sich ja die Frage, ob der Status der Partizipation noch weitere Auswirkungen hat. Die Teilnahme eines Künstlers an einer Versammlung ist schließlich kein Kunstwerk und die Arbeit eines Künstlers ist nicht notwendigerweise Ausdruck seiner politischen Überzeugungen. Politische Versammlungen sind keine Kunstwerke und umgekehrt. Aber beide Manifestationen tragen ähnliche Lasten mit sich herum. Zum Beispiel die Tatsache, dass beide ihre Äußerungen mit einem Grad von Dringlichkeit, und in einer Größenordnung von Intimität, Ausdruck verleihen müssen.
Freie Meinungsäußerung und Gewalt
Was für eine freie Meinungsäußerung ist es, wenn ihr Banner ein anderes verdeckt? Was für eine freie Meinungsäußerung kulminiert in einem gewalttätigen Aufstand? Und was folgt aus einer freien Meinungsäußerung, wenn ein einflussreicher Künstler an einer gewalttätigen öffentlichen Veranstaltung teilnimmt, anders als ein anonymer Bürger, um den es keinen Persönlichkeitskult gibt? Wer lässt den Hammer kreisen?
Noch mal kurz zurück zum zukünftigen dystopischen Nationalfeiertag 6. Januar. Ariel Pink ist sicher einer derjenigen, der seine Meinungstrompete schon gedämpft hat. Denn er hat mit seiner Teilnahme am 6. Januar seiner eigenen Karriere weit mehr geschadet als den USA als Ganzes. Er hat seine eigene Künstlercommunity damit zwar in einen Schockzustand versetzt, aus dem sie dennoch mit mehr Zusammenhalt wieder aufgewacht ist.
Und doch wirkt der Schockzustand nach. Eine Woche nach meiner Entscheidung, Ariel Pink rauszuwerfen, werden mir in einem nächtlichen Telefonat mit dem Plattenvertrieb in Nordamerika die Einzelheiten ersichtlich, die das Einstampfen von tonnenweise Vinyl mit sich bringt. Bereits gepresste Exemplare verschwinden aus den Ladenregalen. Sie werden an ein Lagerhaus geschickt und kommen dann zu einem Recyclingbetrieb. Alle Lageristen, Kuriere, Vorarbeiter:Innen werden davon in Kenntnis gesetzt.
Mich verblüfft, wie hartnäckig diese Fakten sind, verglichen mit all den vagen Nachrichten, die um sie herumschwirren. Wie man es auch dreht und wendet, es gibt keine alternativen Fakten zum Einschmelzen von Vinyl.
Aus dem Englischen von Julian Weber
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften