Argentinien auf Sparkurs: Keine Kohle für Unis
Das argentinische Bildungssystem hat einen guten Ruf. Doch nun überzieht es der neue Präsident Javier Milei mit drastischen Sparvorgaben.
Vor zwei Wochen gingen in Argentinien rund 2 Millionen Menschen auf die Straße. Es war eine der größten Mobilisierungen seit dem Ende der Diktatur 1983 und in den 40 Jahren Demokratie. Allein in der Hauptstadt Buenos Aires marschierten schätzungsweise eine halbe Million Menschen vom Kongressgebäude zum Präsidentenpalast. Es war eine generationen-, klassen- und politikübergreifende Manifestation für das öffentliche und kostenlose Bildungssystem in Argentinien.
Dazu aufgerufen hatte der Hochschulrat der öffentlichen Universitäten. „Die öffentliche Bildung ist eine Säule der argentinischen Gesellschaft“, erklärt die Soziologin Guadalupe Seia. Und an der hatte der libertäre Präsident Javier Milei mit seiner rigorosen Sparpolitik gerüttelt.
Nach seinem Amtsantritt im Dezember kopierte Milei einfach den Staatshaushalt 2023 und verlängerte ihn um ein Jahr. Obwohl die Zuweisungen für die jeweiligen Bereiche in absoluten Zahlen konstant blieben, hatte die jährliche Inflation von über 280 Prozent zu einem starken Wertverlust der Haushaltsmittel geführt, mit direkten Auswirkungen auf die damit finanzierten Löhne und Gehälter. Den rasanten Anstieg der schon vor seiner Amtszeit grassierenden Inflation befeuerte Milei etwa durch die Abwertung des Peso gegenüber dem Dollar. Diese Maßnahmen sind Teil seines neoliberalen Sparprogramms, das auch der Internationale Währungsfonds (IWF) abgesegnet hat.
Bildung ist in Argentinien ein Recht, und der Staat und die Provinzen müssen den freien Zugang zu allen Stufen des Bildungssystems gewährleisten. Die rund 50 öffentlichen und autonomen Universitäten werden vom Staat finanziert. Die Universitäten gehören zu den besten in Lateinamerika und sind auch bei ausländischen Studenten beliebt. Im Jahr 2022 waren rund zwei Millionen Menschen eingeschrieben, davon 90.000 aus dem Ausland. Die im Staatshaushalt für die Bildung bereitgestellten Mittel machen etwa fünf Prozent aus. Gut 14 Prozent davon flossen vor Milei in den Fonid – der die Provinzen bei der Bezahlung der Lehrkräfte stützt.
Wie in Deutschland liegt die Schulbildung in der Zuständigkeit der Provinzen. Obwohl das Pflichtschulsystem (7 Jahre Grundschule, 5 Jahre Sekundarschule) im regionalen Vergleich gut abschneidet, sind die Einbußen in Qualität und Quantität spürbar. Viele Schüler*innen leiden noch immer unter den Folgen der pandemiebedingten Quarantäne, als die Schulen in einigen Provinzen bis zu zwei Jahre geschlossen waren. Dennoch hat sich Argentinien in der Pisa-Studie verbessert und kletterte von Platz 66 im Jahr 2018 auf Platz 60 im Jahr 2023. Interpretieren lässt sich dieser Aufstieg aber lediglich als Folge des Abstiegs anderer Länder. (juevo)
„Allein in den letzten vier Monaten betrug die Inflationsrate 40 Prozent, aber es gab nur eine achtprozentige Gehaltsanhebung“, erklärt Seia. Inzwischen sei es üblich, dass Kollegen und Kolleginnen ihre angesparten Dollar verkauften oder sich Geld liehen, nur um bis zum Monatsende über die Runden zu kommen.
Dennoch war es weniger die bereits seit vielen Jahren bestehende prekäre Gehaltssituation, die den Hochschulrat zum Handeln zwang. Die Universitätsdirektor*innen warnten, dass die Universitäten Ende Mai geschlossen werden könnten. Bald könne nicht einmal mehr der Minimalbetrieb der Einrichtungen gewährleistet werden, allen voran die Unikliniken. Schon jetzt werde der Stromverbrauch in einigen Fachbereichen eingeschränkt oder die Beleuchtung der Räume und der Fahrstuhlbetrieb eingestellt.
Kerzen im Hörsaal
„Ja, es war sogar die Rede davon, den Fachbereich zu schließen“, sagt die 36-jährige Soziologin, die dort seit zehn Jahren unterrichtet. „Ich habe Kerzen zu der Vorlesung mitgebracht“, sagt sie. „Ich wusste nicht, ob es im Hörsaal Licht gibt.“ Einfache Dinge wie Toilettenpapier und Seife in den Toiletten oder Kreide für die Tafel fehlten schon seit Monaten.
Die Bildungspolitik war das kürzeste Kapitel im Wahlprogramm der Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) von Javier Milei. In dürren Sätzen sind neun Punkte aufgelistet, die einer Sammlung von Schlagwörtern ähneln. Am konkretesten ist die Forderung nach der „Abschaffung des Zwangscharakters der ESI auf allen Bildungsebenen“. Die „Educación Sexual Integral“ wurde 2006 gegen den konservativen und kirchlichen Widerstand eingeführt. Dabei geht es vorrangig um Sexualerziehung, aber auch um Fragen der Geschlechtsidentität.
Ansonsten ist die Rede vom Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen, mittels des „Sistema de vouchers cheque educativo“, dem Bildungsgutscheinsystem. „In der idealen Welt gibt es ein Gutscheinsystem, du studierst und ich gebe dir die Gutscheine dafür. Du kannst wählen, ob du damit an eine privaten oder öffentliche Einrichtung gehst“, erklärte Milei im Wahlkampf. So muss auch niemand mehr Opfer einer Institution werden, „die mich mit marxistischem Müll indoktriniert“, fügte er hinzu.
Was Milei aufgreift, ist ein Vorschlag des neoliberalen Ökonomen Milton Friedman aus dem Jahr 1955, der auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage beruht. Anstatt die Angebotsseite, wie Schulen und Universitäten, zu finanzieren, werden die Finanzmittel auf die Nachfrageseite, sprich den Lernenden, übertragen. Der erhoffte Nebeneffekt ist ein verstärkter Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen, der für ein besseres Lehrangebot sorgen soll.
Das Bildungsministerium ist jetzt Sekretariat
Als eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident hat Milei die Zahl der Ministerien halbiert. Bildung ist jetzt eines von fünf Sekretariaten, die dem neu geschaffenen Ministerium für Humankapital unterstellt sind. Damit hat Argentinien erstmals seit der Diktatur von Juan Carlos Onganía (1966–1970) kein Bildungsministerium mehr. Es trifft aber nicht die Bildung allein. In allen Bereichen setzt Milei auf eine harte Sparpolitik.
„Zum Glück sind die Provinzen für die Schulen zuständig“, sagt Grundschullehrer Juan Pérez von einer Schule im Bezirk La Matanza in der Provinz Buenos Aires. Seinen richtigen Namen und den seiner Schule will er lieber nicht in der Zeitung lesen. „In den letzten vier Monaten wurden unsere Gehälter von der Provinzregierung um etwas mehr als 50 Prozent erhöht“, sagt er. Das liegt zwar nur knapp über der Inflationsrate, aber wenigstens haben sie nicht an Kaufkraft verloren.
Zu verdanken hat Pérez das Axel Kicillof, dem Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Der ehemalige Wirtschaftsminister von Ex-Präsidentin Cristina Kirchner (2007–2015) ist einer der Politiker einer insgesamt schwachen und zersplitterten linken Opposition, der noch ein einflussreiches Amt bekleidet. Es bleibt abzuwarten, wie lange er diese Lohnpolitik finanzieren kann. Schließlich hat Präsident Milei den Provinzen die Mittel aus dem Fondo Nacional de Incentivo Docente, kurz Fonid, gestrichen.
Mit den Mitteln aus dem staatlichen Fonds wurde bisher ein Anteil von 10 Prozent der Gehälter der mehr als 1,6 Millionen Lehrkräfte im öffentlichen Grund-, Sekundarschulsystem sowie der Erwachsenenbildung finanziert. Die fehlenden Mittel bringen vor allem die finanzschwachen Provinzen in Bedrängnis. Darauf angesprochen antwortete Präsident Javier Milei knapp: „Die Bildung liegt in der Verantwortung der Gouverneure, es ist ein Problem der Provinzen.“
Bildungsgutscheine für einzelne Monate
„Der Fonid ist eine hart erkämpfte Errungenschaft der Lehrenden und ihrer Gewerkschaften“, sagt Lehrer Juan Pérez. „Mein Onkel war damals dabei.“ Im April 1997 errichteten sie das „Weiße Zelt der Lehrenden“ (Carpa blanca docente) vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires und protestierten gegen die Sparpolitik der damaligen neoliberalen Regierung von Präsident Carlos Menem, unter anderem mit einem Hungerstreik. Mehr als 1.400 Lehrkräfte aus ganz Argentinien hatten sich abwechselnd daran beteiligt. Nach 1.003 Protesttagen lenkte die Regierung ein. „Im Dezember 1998 wurde dann der Fonid eingerichtet“, sagt der 32-Jährige, der seit acht Jahren unterrichtet.
Neben rigorosen Sparvorgaben sieht die Bildungspolitik der Regierung eine Art Subventionspolitik vor. Mittelschichtfamilien, die aufgrund der rasant gestiegenen Lebenshaltungskosten das Schulgeld für ihre Kinder an den Privatschulen nicht mehr zahlen können, dürfen Bildungsgutscheine im Wert von umgerechnet 25 Euro für Mai, Juni und Juli beantragen. Für die einkommensschwachen Familien hat die Regierung die einmalige Beihilfe für Schulutensilien von 15 auf rund 65 Euro angehoben.
Dennoch ist in der Sparpolitik eine klare ideologische Perspektive zu erkennen, warnt die Soziologin Guadalupe Seia. „Die Regierung hat einen Angriff auf das öffentliche Bildungswesen als den Raum gestartet, in dem solidarisches Handeln und der freie Austausch von Information vorrangig sein sollten und in dem die Regierung ein eher linkes Engagement vermutet“, sagt sie. Die öffentliche Bildung ist ein von der Verfassung garantiertes Recht, so Seia und freut sich über die Demonstration vor zwei Wochen: „Zwei Millionen Menschen haben das dem Präsidenten deutlich gesagt.“
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