: Leichen nach Berlin
TABUBRUCH Exhumiert und neu bestattet: Aktionskünstler bringen Überreste von Flüchtlingen nach Deutschland
VOLKER BECK, GRÜNE
VON INES KAPPERT UND MARTIN KAUL
BERLIN taz | „Die Toten kommen“ – und dieser Name ist Programm. Mit einer neuen Aktion sorgt die Berliner Menschenrechts- und Künstlergruppe Zentrum für Politische Schönheit seit Montag erneut für Schlagzeilen. In den kommenden Tagen will die Gruppe, die immer wieder mit spektakulären Kunstaktionen auffiel, in Südeuropa exhumierte Leichen von ertrunkener Migranten nach Berlin bringen und dort „würdig begraben“.
Hintergrund ist die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. „Deutschland“, so Initiator Philipp Ruch, „ist die Schaltzentrale für die EU-Abschottungspolitik“. Kanzlerin Angela Merkel und Innenminister Thomas de Mazière seien mitverantwortlich für die zigtausend Toten, die bis heute beim Versuch, Europa zu erreichen, ertrunken sind.
Exhumierte Leichen auf Berliner Friedhöfen bestatten – alles nur Fake? Nein. Ein bayerischer Polizeisprecher bestätigte, dass am Freitagnachmittag der Transporter eines italienischen Bestatters mit dem Ziel Berlin aufgehalten und kontrolliert worden sei. Durchgeführte Röntgenaufnahmen hätten erwiesen, dass sich in den Särgen Leichenteile befanden.
Mit zahlreichen Aktionen will das „Zentrum“ die Woche über auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer hinweisen. Am Sonntag soll vor dem Kanzleramt angeblich mit Arbeiten für ein „Ehrenmal für unbekannte Einwanderer“ begonnen werden.
Bei einer für Dienstag geplanten Beerdigung sollen eine Syrerin bestattet werden, die auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen und zuvor in einem anonymen Grab in Südeuropa vergraben worden sei.
Ihre Familie lebt angeblich in Berlin und wird vor der Öffentlichkeit abgeschirmt. Sie habe der Überstellung zugestimmt. Zur Beerdigung ist auch das politische Berlin eingeladen. Das Sekretariat des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag leitete die Einladung am Montag an die Ausschussmitglieder weiter.
Hintergrund der Aktion ist, dass die in Mittelmeer-Anrainerstaaten angeschwemmten Leichen mehrheitlich als „unbekannt“ bestattet werden. Angehörige dieser unbekannten Einwanderer müssen dann nicht benachrichtigt werden und werden damit im Ungewissen gelassen. Aktivisten berichteten ebenfalls von Massengräbern, etwa im griechischen Sidiro.
Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums sagte der taz, das Ministerium habe „keine Hinweise darauf, dass es an Europas Außengrenzen Massengräber gibt“. Im Übrigen sei das Ministerium nicht zuständig für Fragen zum Bestattungswesen an den EU-Außengrenzen. Gleichzeitig gehört Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) zu den entschiedensten Fürsprechern, auch militärisch gegen Schleuserboote im Mittelmeer vorzugehen.
Bundespolitisch stieß die Kunstaktion am Montag auf geteilte Reaktionen. Die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, sagte: „Die Aktionen des Zentrums sind manchmal hart an der Grenze, aber gerade auch deshalb direkt an den berührenden Themen dran. Wir brauchen dringend legale Wege in die EU und eine deutliche Ausweitung der Seerettungszonen, um das Sterben zu verhindern.“ Auch Amnesty Deutschland schloss sich dieser Forderung an.
Der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünenfraktion im Bundestag, Volker Beck, kritisierte dagegen: „Tote Flüchtlinge zum Gegenstand einer Kunstaktion zu machen, ist befremdlich und pietätlos.“ Im Hinblick auf die Bestattungspraxis an der EU-Grenze fügte er an: „Die Europäische Union muss alles dafür tun, diese Menschen zu identifizieren und ihren Angehörigen die Möglichkeiten zu geben, sie auch nach einer Beerdigung noch ausfindig zu machen und ihren Tod amtlich feststellen zu lassen – etwa durch dokumentierte Fotos und DNA-Proben.“
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