piwik no script img

„Großes soziales Experiment“

WILDWUCHS Niko Rollmann schreibt ein Buch über das ehemalige Camp auf der Cuvrybrache. Der Historiker hat sich dafür intensiv mit den Akteuren beschäftigt

Geschichte der Cuvrybrache

■ Das Gelände: Auf 12.000 Quadratmetern zwischen Cuvrystraße, Schlesischer Straße und Spree standen einst ein Bunker und Lagerhallen, dann der Club Yaam, der 1998 Platz machen musste für ein geplantes Einkaufszentrum. Das lehnte der Bezirk ab, der Senat übernahm die Planungshoheit für das Gelände, doch auch Pläne für ein Hotel oder Lofts scheiterten. 2012 kaufte der Immobilienentwickler Artur Süsskind das Gelände, er will eine Wohnanlage mit Spreeterrasse errichten.

■ Das Camp: Im Sommer 2012 wollte das „Guggenheim Lab“ die Brache bespielen. Gegen die Stadtforscherkonferenz gab es heftige Anwohnerproteste. Aus dem Protestcamp entwickelte sich eine Hüttensiedlung, auf der zeitweise bis zu 200 Menschen lebten: Lebenskünstler, Obdachlose, Wanderarbeiter, Romafamilien. Das Camp machte als „Berlins erste Favela“ Schlagzeilen. Im September 2014 räumte die Polizei das Gelände.

■ Die „Cuvryhöfe“: 2015 sollte eigentlich Baubeginn sein, aber es fehlt die Baugenehmigung. Nach Auskunft des Senats dauert das Bebaungsplanverfahren noch an.

INTERVIEW NINA APIN

taz: Herr Rollmann, was fasziniert Sie so an der inzwischen geräumten Hüttensiedlung auf der Cuvrybrache in Kreuzberg?

Niko Rollmann: Ich entdeckte im Juni 2013 das Hüttendorf zufällig beim Spaziergehen – und fühlte mich sofort davon angezogen. Bis zur Räumung im September 2014 war ich wohl etwa 25 Mal dort. Mich interessierte dieses Wohn- und Lebensexperiment in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Ich will in meinem Buch die Vorgeschichte des Areals erzählen, Menschen zu Wort kommen lassen, die dort lebten. Und mich kritisch mit der Medienberichterstattung über die Cuvrybrache auseinandersetzen, die mich sehr gestört hat.

Was hat Sie gestört?

Die meisten Berichte dämonisierten die Zustände auf der Brache in unangemessener Weise. Favela, Schandfleck … Die Begrifflichkeit hatte etwas Totalitäres. Gleichzeitig wurden die Bewohner als hochgradig asozial dargestellt, man zeigte vor allem Betrunkene und aggressive Menschen, die es natürlich auch gab. Nur: Diejenigen, die sich aus freien Stücken fürs Leben dort entschieden hatten, weil sie einen anderen Gesellschaftsentwurf leben wollten, kamen kaum zu Wort. Das will ich mit meinem Buch ändern.

Sie wollen quasi posthum die Ehre der Cuvrybrache als Gesellschaftsutopie retten?

Es war immerhin ein großes soziales Experiment: Auf der Größe eines Fußballfelds trafen Aussteiger, Straßenkids, Afrikaner, osteuropäische Wanderarbeiter und Romafamilien aufeinander. Man könnte auch sagen: Die Erste, die Zweite und die Dritte Welt. Ich hatte auf diesem Stück Land, auf dem die Regeln der Gesellschaft ausgehebelt schienen, viele schöne und interessante Begegnungen.

Aber glorifizieren Sie nicht die Zustände? An die 200 Leute hausten mitten in Kreuzberg ohne Wasser, Strom, Toiletten. Es gab Ratten, Müll, Gewalt …

Klar, auch ich habe dort ein paar kritische Situationen erlebt und musste die Brache verlassen.

Diese Rückzugsmöglichkeit hatten viele auf der Brache nicht!

Es herrschte dort schon eine Zweiklassengesellschaft. Es gab die, die dort leben mussten, weil sie keine andere Möglichkeit hatten. Zu den Roma oder den Wanderarbeitern hatte ich tatsächlich wenig Kontakt, die lebten sehr für sich. Und die, die dort lebten, weil es ihnen gefiel. Diese Aussteiger aus Spanien, Amerika oder Italien hatten oft eine richtige Wohnung oder zumindest ein bürgerliches Leben, in das sie jederzeit zurückkehren konnten. Sie waren auch am offensten für einen Austausch. Im August 2014, kurz vor der Räumung, gab es noch einmal ein Plenum, das zum großen Teil aus Leuten bestand, die dort nicht wohnten. Man sprach über die drohende Räumung, die Baupläne des Investors – und wie man sie verhindern kann. Dieses Bündnis gegen die Cuvryhöfe gibt es bis heute. Wir machen weiter.

Der Immobilienentwickler Artur Süsskind kaufte das Gelände bereits 2011. Seit der Räumung ist es mit einem Zaun gesichert, die Baugenehmigung ist in Arbeit. Was wollen Sie jetzt noch gegen die Cuvryhöfe unternehmen?

Niko Rollmann

■ 44, Historiker und Sachbuchautor. Mit seinem Buch über die Cuvrybrache will er kein Geld verdienen – das widerspräche dem Geist dieses Ortes.

Wir informieren die Anwohner über das geplante Bauvorhaben und die gesamte „Aufwertung“ des Spree-Ufers. Und wir fragen die Leute, was ihrer Meinung nach auf dem Gelände passieren soll. Ein Stadtgarten, ein Campingplatz für Besucher – die Vorschläge posten wir auf Facebook, um die Leute aus ihrer Lethargie zu reißen. Es ist wichtig, dass die Bürger ihre Stimme erheben, damit Investoren nicht einfach kriegen, was sie wollen. Zum Beispiel haben wir Kontakt mit dem Stadtentwicklungssenat aufgenommen, um Details über den Stand der geplanten Bebauung zu erfahren.

Wie man hört, will Süsskind 10 Prozent günstige Wohnungen anbieten, der Senat und besonders der Bezirk wollen jedoch mehr – ein Grund, warum es bei der Baugenehmigung hakt. Es wird also durchaus gerungen um die Cuvryhöfe. Haben Sie denn kein Vertrauen in den Senat?

Gegenfrage: Warum sollte man in dieser Gegend hochpreisige Wohnungen bauen dürfen? Für Menschen mit wenig Geld ist es ohnehin schwierig, im Wrangelkiez einen Platz zu finden. Nur wenigen ehemaligen Brachenbewohnern ist es übrigens gelungen, in einer Sozialwohnung oder unter einem anderen festen Dach unterzukommen.

Haben Sie einen Überblick darüber, wo die verschiedenen Gruppen heute leben?

Nur teilweise. Nach der Räumung gab es ein Katz-und Maus-Spiel mit der Polizei, die Bewohner immer wieder von Plätzen und aus dem Park verjagten. Die Afrikaner sieht man gar nicht mehr im Viertel, von den Roma leben noch ein paar in behelfsmäßigen Unterkünften. Auch einige Osteuropäer sieht man noch im Kiez. Der weniger pflegeleichten Klientel, die auch Suchtprobleme hat, geht es schlechter: Einigen bin ich bei der Bürgerhilfe in der Cuvrystraße begegnet. Sie waren in desolatem Zustand, schlafen in Treppenaufgängen und Parks. Über die sozialen Konsequenzen der Räumung sollte man ruhig auch einmal sprechen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen