: Die Verdrängten
DANACH Wer sich die Miete nicht mehr leisten kann, zieht weg. Eine Folge von Gentrifizierung. Wo wohnen diese Menschen heute? Wir haben sie besucht
■ Wann? Am 1. Juni 2015 wird sie erst mal nur in Berlin eingeführt.
■ Wie? Bisher darf die Miete bei Wiedervermietungen beliebig hoch sein. In Großstädten mit angespanntem Wohnungsmarkt kam es zu Preissprüngen von bis zu 40 Prozent. Künftig darf dort der Mietpreis höchstens 10 Prozent über dem Niveau des örtlichen Mietspiegels liegen. Ausnahme: bei Modernisierungen und bei Erstvermietung von Neubauten.
■ Hätte sie unseren Protagonisten geholfen? Die Miete der Gülbols lag weit unter dem Mietspiegelniveau und durfte angehoben werden. Ingeborg Coghlans Haus wurde modernisiert. Die Mietpreisbremse gilt auch nur bei Wiedervermietungen. Aber die Schreibers hätten mit der neuen Regelung eine Chance gehabt. Sie suchten eine neue Wohnung. Wären die Mieten in ihrem Frankfurter Viertel nicht so stark gestiegen, wären sie wohl nicht an den Stadtrand gezogen.
■ Mehr lesen? Ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Andrej Holm zum Thema lesen Sie auf taz.de/mietpreisbremse
AUS BERLIN, FRANKFURT UND MÜNCHEN PADDY BAUER, LISA SCHNELL UND STEFFI UNSLEBER
Wäre das Leben gnädig, würde es Ali Gülbol nicht ständig auf die Vergangenheit stoßen. Er könnte dann in Ruhe den bitteren Tee genießen, den er mit seiner Frau trinkt, wenn er, Maler und Verputzer, nach Hause kommt. Den Ausblick auf Berlin. Vielleicht sogar den Streit mit seinen Söhnen, wenn die mal wieder in den Tag hineinleben und sich nicht um ihre Zukunft kümmern.
Vielleicht fände er die Enge in der Wohnung gemütlich, vielleicht wäre er zufrieden mit der Gegenwart, mit dem, was er in seinem Leben erreicht hat.
Ali Gülbol, 44, Sohn türkischer Gastarbeiter, in Kreuzberg geboren, in Kreuzberg geblieben, der bescheiden lebt, im Dachgeschoss der Lausitzer Straße 8.
Aber das Leben ist nicht gnädig mit ihm, deshalb kommt Gülbol jeden Tag, wenn er die Treppe zu seiner Dachgeschosswohnung hochsteigt, an seiner Vergangenheit vorbei, an einer Tür, hinter der jetzt Studenten leben. Einer Tür, hinter der er mit seiner Familie zwanzig Jahre lang gelebt hat.
Und er erinnert sich wieder daran, dass es nicht seine Dachgeschosswohnung ist, zu der er unterwegs ist. Sondern die seiner Eltern, die solange in ihrem Ferienhaus in der Türkei bleiben wie möglich, damit seine Familie mehr Platz hat.
2013 wurde Gülbols alte Wohnung zwangsgeräumt. Er hatte den Gerichtsprozess gegen seinen Vermieter verloren, der hundert Euro mehr wollte für die vier Zimmer. Die Familie zahlte verspätet. Sie flog raus.
Hunderte haben protestiert, Pflastersteine und Pfefferspray, mehrfach, im Morgengrauen. Einmal musste die Gerichtsvollzieherin wieder gehen. Das zweite Mal nahm sie der Familie die Schlüssel ab. Und Necmiye Gülbol stand oben am Fenster der Dachgeschosswohnung und dachte, wenn sie jetzt springt, dann verliert sie keinen Tropfen Blut, weil sie innerlich wie eingefroren ist.
Die Gülbols wurden zum Symbol für die hässliche Seite des herausgeputzten Kreuzbergs, dem alternativen, multikulturellen Viertel in Berlin, in das immer mehr Leute drängten. Ihre Zwangsräumung wurde der bekannteste Fall Berlins, vielleicht sogar Deutschlands.
Die Zwangsräumung ist das letzte Glied in einer Kette von Ereignissen. Den Anfang macht ein Paradigmenwechsel: Wohnungen in der Stadt sind heute beliebter als solche am Stadtrand. Oder gar auf dem Land.
Das Phänomen Gentrifizierung wurde vor fünfzig Jahren zum ersten Mal in London beobachtet. Die Stadtsoziologin Ruth Glass stellte fest, dass die Mittelschicht vom Stadtrand in die Arbeitergebiete zog und dort Häuser renovierte. Ihnen folgte die entsprechende Infrastruktur mit Cafés und guten Restaurants. Glass sah eine Analogie zu den Vorgängen im 18. Jahrhundert, als Teile des niederen Adels, „Gentry“ genannt, vom Stadtrand zurück ins Zentrum zogen.
Bis in die sechziger Jahre kannten Stadtforscher nur das Konzept des Speckgürtels. Das Stadtzentrum war das Revier der Armen, Alten, Arbeitslosen und Ausländer.
Aber als Frauen begannen zu arbeiten, wurde das Haus mit Garten oft eingetauscht gegen die kleinere Wohnung in der Stadt, die näher am Arbeitsplatz lag. Und auch Singles, von denen es mit den Jahrzehnten immer mehr gab, wählten als Wohnort eher die Stadtmitte als deren Randgebiete.
Dadurch wurden Häuser, die in früheren Problemvierteln standen, für Investoren wertvoll. Bei einigen Vermietern und Hausbesitzern erwacht an diesem Punkt der Geschäftssinn: Neue Mieter würden ein Vielfaches von dem zahlen, was im Mietvertrag der Altmieter steht.
Und so beginnt der zweite Schritt der Gentrifizierung: die Verdrängung. Der Austausch von statusniedrigen Bevölkerungsgruppen durch statushohe, wie Soziologen es nennen.
Meistens werden die Wohnungen, die durch natürlichen Wegzug frei werden, einfach teurer weitervermietet. Manchmal lässt der Hausbesitzer sie auch leerstehen, weil er das gesamte Haus weiterverkaufen will – ohne Mieter. Wer ein leeres Haus kauft, kann damit alles machen, einen Aufzug einbauen oder einen Swimmingpool.
Manche Hausbesitzer wollen den natürlichen Wegzug beschleunigen. Sie erhöhen die Miete oder machen das Wohnen in ihrem Haus zunehmend anstrengend, durch Baulärm oder fehlende Glühbirnen im Treppenhaus. Die meisten ziehen aus, nach und nach. Wer will schon in einem Kriegsgebiet wohnen?
■ Hoch: In keinem anderen Bundesland sind die Mieten so teuer wie in Hamburg. Der Mikrozensus 2010 zeigt: Dort kostete die Bruttokaltmiete im Schnitt 8,12 pro Quadratmeter, in Hessen 6,91 Euro und in Bayern 6,75 Euro. Am Ende der Tabelle steht Thüringen mit 5,42 Euro pro Quadratmeter.
■ Höher: Und sie steigen weiter. Interessanterweise vor allem in Wolfsburg. Dort wurden die Mieten von Dreizimmerwohnungen in den vergangenen fünf Jahren um 40,7 Prozent erhöht. An zweiter Stelle folgt Berlin mit 30,8 und Ingolstadt mit 28,9 Prozent. Der bundesweite Anstieg betrug im Schnitt 15 Prozent.
■ Am höchsten: In welcher Stadt zahlt man am meisten? In Frankfurt am Main sind es durchschnittlich 12,15 Euro pro Quadratmeter, in Stuttgart 12,21 Euro. Spitzenreiter bei den Neuvertragsmietpreisen ist die bayerische Landeshauptstadt München. Dort waren es im ersten Quartal 2015 im Schnitt 15,20 Euro pro Quadratmeter. München hat außerdem die niedrigste Leerstandsquote in Deutschland mit 0,4 Prozent.
Über die Verdrängten ist wenig bekannt. Statistiken darüber, wohin sie ziehen, gibt es kaum. Aber man kann sie treffen. Mitten in München zum Beispiel. Am Rande Frankfurts. Oder in einem der beliebtesten Viertel der Hauptstadt.
Ilse Helbrecht, Professorin für Metropolenforschung an der Humboldt-Universität in Berlin, hat mit Studenten versucht herauszufinden, wo die Verdrängten heute wohnen. Sie haben sich für die Recherche drei Häuser aus dem ehemaligen sozialen Wohnungsbau in Kreuzberg vorgenommen, die alle privatisiert wurden.
Das Ergebnis hat sie überrascht: Die meisten waren nicht etwa nach Marzahn oder Hellersdorf gezogen, Berliner Plattenbauviertel, sondern hatten versucht, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. Allerdings wohnten fast alle schlechter als davor: Ihr neues Zuhause war kleiner, lag nicht mehr im Vorder-, sondern im Hinterhaus oder wurde mit Untermietern geteilt. Wichtiger als der Komfort war ihnen gewesen, im Kiez bleiben zu können. Wenn das nicht geklappt hat, sind sie in einen Kiez gezogen, der ihrem alten ähnlich ist. Von Kreuzberg nach Neukölln, zum Beispiel. Einige wenige wohnen jetzt am Stadtrand, in Rudow oder Spandau. Niemand hat sich für Brandenburg entschieden.
Er wurde geräumt: Ali Gülbol
Ali Gülbol lebt jetzt wieder bei seinen Eltern, in derselben Wohnung, in der er in den siebziger Jahren aufgewachsen ist. Er teilt sich mit seiner Frau eine Kammer, ihren Schrank haben sie ins Zimmer der zwei Jungs gestellt, weil das größer ist. Beide sind rundlich, sitzen geduckt. Sie haben ihre Stabilität verloren. De facto sind sie jetzt wohnungslos.
Im Flur liegt ein grasgrüner Teppich mit blauem Muster auf flaschengrünem Linoleumboden. Die Wand ist mit rosa Blümchen tapeziert, im Flur stehen Mülltüten. Die Wohnung wirkt unruhig, vollgestopft.
Necmiye Gülbol sagt: „Wir sind, wie man im Zelt wohnt. Da, aber schnell auch wieder weg.“
Sie haben sich nach Wohnungen in Kreuzberg umgesehen und nichts gefunden, zwei Jahre lang. Dann in Rudow oder Spandau, aber es geht ihnen wie den Menschen in der Studie der Humboldt-Universität: Lieber arrangieren sie sich jetzt mit weniger Platz, statt dass sie ihren Kiez verlassen.
Auch Ingeborg Coghlan hat sich eine Wohnung gesucht, die nur wenige hundert Meter von ihrem alten Wohnort entfernt liegt. Wenigstens das. Zwölf Jahre lang hatte sie am Ende der gebogenen Geyerstraße im Münchner Glockenbachviertel gewohnt. Hier fühlte sie sich geborgen, hier wollte sie bis zu ihrem Lebensende bleiben.
Jetzt lebt sie auf 16 Quadratmetern statt auf 42. Das zweite Zimmer ihrer Wohnung hat sie an einen Studenten untervermietet. Sie mag ihn. Das Gefühl, auf ihn angewiesen zu sein, mag sie nicht.
In München fehlt es nicht an Menschen, die viel Geld für Wohnungen ausgeben können. Es fehlt an Wohnungen. Coghlans altes Zuhause war viel wert, das Glockenbachviertel ist begehrt. Nahe am Zentrum, die Isar um die Ecke, Bars und Cafés. Sie stammen aus der Zeit, als Schwule und Künstler das Arbeiterviertel für sich eroberten und die Mieten billig waren. Jetzt ist es mit fast 17 Euro pro Quadratmeter eines der teuersten Viertel der Stadt.
Coghlan, 61 Jahre, grauer Kurzhaarschnitt, von Beruf Bankangestellte, lebte auf einer Insel im Mietwahnsinn. Ihr Haus war nicht renoviert, für ihre Zweizimmerwohnung zahlte sie 348 Euro warm im Monat. Doch die Immobilienfirma, die 2013 auf ihren alten Vermieter folgte, plante eine Luxussanierung und stellte die Anwohner vor die Wahl: in einer Baustelle leben oder sich rauskaufen lassen. Coghlan ging als eine der Letzten.
Es ist Winter, als sie für ein paar Minuten dorthin zurückkehrt. Sie will wissen, was aus ihrem Zuhause von damals geworden ist. „Ich hab hier mal gewohnt“, sagt sie zu den Bauarbeitern und darf rein. Im Treppenhaus hängen Kabel aus der Wand, überall Staub, es riecht nach Zement. Coghlan geht die alte Holztreppe hoch, hält sich am geschnörkelten Eisengeländer fest. Es ist das Einzige, was ihr noch vertraut ist. Der Fahrradraum ist jetzt ein Fahrstuhl. Aus den vier Wohnungen pro Stockwerk wurden zwei gemacht. Riesige Fenster, teure Armaturen, Badezimmer, die so groß sind wie Coghlans früheres Wohnzimmer. Sie schiebt die Plastikplane am Fenster ihrer alten Küche zur Seite, am Horizont die Alpen.
Über drei Jahre kämpfte sie. Als Coghlan im Jahr 2000 einzog, steckte sie 20.000 Mark in ihre marode Wohnung. Sie riss den schimmligen Putz runter, renovierte Toilette und Bad. „Ich dachte ja, ich bleibe.“
Quadratmeter Wohnfläche haben deutsche Haushalte im Schnitt zur Verfügung. Bei Mietern sind es 69,4 Quadratmeter Quelle: Statistisches Bundesamt, 2013
18
Prozent der Deutschen fühlen sich durch ihre monatlichen Wohnkosten wirtschaftlich stark belastet Quelle: Statistisches Bundesamt, 2013
8,4
Prozent mehr Haushalte als im Jahr 2003 gab es 2011 in Hamburg. Die Zahl der Wohnungen stieg in diesem Zeitraum aber nur um 3,1 Prozent Quelle: Studie von Regio Kontext, 2013
11
Prozent der Wohnungen in Salzgitter standen im Jahr 2013 leer, so viele wie sonst nirgends in Deutschland Quelle: Immobilien-Dienstleistungsunternehmen CBRE Group
3,2
Prozent der Wohnungen im Erzgebirge und im Vogtland haben kein Bad und kein WC Quelle: Statistisches Bundesamt, 2011
5
Monate dauert die Wohnungssuche in der Schweiz im Schnitt. Für Deutschland liegen keine belastbaren Zahlen vor Quelle: Umfrage des Vergleichsportals comparis.ch
Doch dann, fünf Jahre später, wurden leerstehende Wohnungen nicht mehr weitervermietet, für Coghlan und ihre Nachbarn wurde es ungemütlich. Ein Balkon wurde gesperrt, weil er instabil war. Als der Hausmeister auszog, kam kein neuer nach. Der frühere Besitzer des Hauses war gestorben, die Erbengemeinschaft wollte es zu Geld machen.
Für 3,8 Millionen Euro kaufte es eine Immobilienfirma, wenig später hatte Coghlan einen Brief in der Hand mit Modernisierungsplänen, für 100 Prozent mehr Miete. Das Haus wurde erneut verkauft. Im Internet sah Coghlan, was aus ihrer Wohnung werden sollte: eine riesige Wendeltreppe, die zu einem 270 Quadratmeter großen Loft führte. Die neuen Besitzer versuchten, die Mieter zum Auszug zu überreden. Eine Nachbarin hätten sie „regelrecht gestalkt“. Fast jeden Tag kamen sie zu ihr nach Hause, jedes Mal boten sie mehr Geld. „Bevor man piep sagen konnte, war der Nächste weg.“ Bald waren nur noch Coghlan und ein Nachbar übrig.
Am Schluss lebte sie auf einer Baustelle. In den Wohnungen neben ihr wurde gehämmert, Wände wurden eingerissen. Manchmal hatte sie zwei Tage lang kein warmes Wasser, duschte bei Freunden. „Willst du dir das wirklich antun?“ – diesen Satz hörte sie immer öfter. Sie war gerade in Altersteilzeit gegangen, hatte eigentlich vor zu reisen. Gerade als sie zweifelte, kam ein neues Angebot, doppelt so hoch, eine sechsstellige Summe. Sie ging.
Sie fand eine Wohnung in Untergiesing, auf der anderen Seite der Isar, nur ein paar Minuten entfernt. Die meisten ihrer Nachbarn hatten nicht so viel Glück. Eine, die seit über 80 Jahren in der Geyerstraße wohnte, sitzt jetzt in einem Altersheim, weit weg von dem Viertel ihrer Kindheit. Andere zogen in einen Vorort oder wohnen direkt neben der Autobahn.
Sie wurde gekauft: Ingeborg Coghlan
Coghlan hat wieder eine Altbauwohnung, hohe Decken, altes Parkett, in zehn Minuten ist sie an der Isar. Der Weg dorthin führt über eine laute, vierspurige Straße, die sich unter einer S-Bahn-Brücke befindet. In ihrem neuen Viertel stehen Siebziger-Jahre-Bauten mit Betonbalkonen neben kleinen Häuschen mit Vorgarten, gegenüber die „Pilsbar Zic Zac“, aus der die Spielautomaten blinken. „Es ist authentischer hier“, sagt Coghlan. Auch einen Bioladen mit ihrer Lieblingsmilch hat sie mittlerweile gefunden.
An einem Metallregal in ihrer Küche baumelt eine Dirndl-Marionette. Coghlan liebte es, ihre Wohnung mit kleinen Details zu schmücken. In ihrer neuen Wohnung fehlt ihr dafür der Platz. Mehr als ein Bett, eine Garderobe und ein Sideboard passt nicht in ihr Zimmer. Über ihre Ausgaben muss sie mittlerweile Buch führen. Beim Einkaufen achtet sie auf die Preise, geht selten essen, trinkt den Kaffee lieber zu Hause. Eine Woche im Monat verdient sie sich als Verkäuferin 400 Euro dazu.
Ingeborg Coghlan ist in ihrem Viertel geblieben. Sie kann die gleichen Geschäfte nutzen, ihre Freunde besuchen. Die Wege in der Stadt bleiben gleich. Was sie erlebt hat, sagen Soziologen, ist eine Verdrängung aus dem Lebensstandard. Wer weiter in den Metropolen leben möchte, muss höhere Mieten zahlen. Und das bedeutet in den meisten Fällen: an anderer Stelle sparen. Einen anderen Lebensstil pflegen.
Ingeborg Coghlan zahlt jetzt mehr Miete. Und hat weniger Geld für alles andere.
Im Gang ihrer Wohnung hängen Henna-Muster aus Indien. Coghlan wollte reisen. Deshalb ging sie in Altersteilzeit und bekommt nur noch 85 Prozent ihres Gehalts. Mit ihrer früheren Miete hätte sie sich eine Weltreise leisten können. Aber selbst mit Untermieter zahlt sie jetzt statt 348 Euro 600 im Monat. Die Geyerstraße, das war ihr Nest, von dem aus sie die Welt erkunden wollte. „Ich hab mich verändert“, sagt sie. Ihr fehlt das „Gefühl von Heimat“. Solange sie es nicht hat, will sie auch nicht in die Welt hinaus.
Hätten die Schreibers die Wahl gehabt, wären sie auch gerne in ihrem Viertel geblieben. Aber sie brauchten mehr Platz. Zwei Erwachsene und zwei Kinder in drei Zimmern, das ging nicht mehr. Obwohl sie beide sehr gut verdienten, fanden sie in Frankfurt-Ginnheim keine bezahlbare Wohnung.
Ginnheim, das ist eine Verbindung von Dorf und Stadt, wie man sie in Frankfurt am Main häufig findet. Viele kleine Dörfer, die irgendwann eingemeindet wurden und nun ein Frankfurt vor ihrem Namen tragen. Die Straßen heißen hier „Ginnheimer Hohl“, „Schäfers Gärten“ und „Mühlgasse“. Im alten Dorfkern steht die Kirche und ein kleines Gasthaus. Von Großstadt merkt man nichts.
Emma und Anton mussten sich in Ginnheim ein Zimmer teilen. Emma ist 13. Anton 6. Emma habe sich einen Rückzugsort gewünscht. 2011 fingen Schreibers an zu suchen. „Wir wollten eigentlich fünf Zimmer in Ginnheim“, sagt Jens Schreiber. Sie fanden nichts. Also vier Zimmer in Ginnheim. Wieder nichts. Eine Wohnung im Erdgeschoss, nicht an einer Hauptstraße, möglichst mit einem kleinen Garten. Sie suchten im Internet, bei Maklern und im Freundeskreis. Alles ohne Erfolg.
Die Gülbols in BerlinVerdrängung aus: KreuzbergMiete vorher: 815 Euro warm Wohndauer: 22 Jahre Miete nachher: 600 Euro in Wohnung der Eltern Entfernung: 0 Meter
Fündig wurden sie in der Neubausiedlung Riedberg. Sechs Kilometer weiter draußen. Mit der U-Bahn 25 Minuten in die Innenstadt. Weite Wege in Frankfurt. Aber dafür: vier Zimmer, Erdgeschoss und ein Garten für 1.500 Euro warm.
Nach ihrer Bewerbung riefen sie ein Jahr lang immer wieder in der Hausverwaltung an oder schickten E-Mails. „Die sollten uns nicht vergessen.“ Dann kam die Zusage. Im Oktober 2013 zogen sie als Erste in den Block ein.
Die Situation der Schreibers klingt nicht tragisch. Ihre Suche beschreibt aber gut den Zustand in vielen deutschen Städten: Es gibt zu wenige Wohnungen. Und zwar nicht nur für Menschen mit niedrigem oder keinem Einkommen. Der Oberbürgermeister Peter Feldmann ging vergangenes Jahr von 20.000 fehlenden Wohnungen in Frankfurt aus. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft hat seit 2009 ein Mittelstandsprogramm. Es soll sicherstellen, dass für Bürger mit geringem und mittlerem Einkommen ein bezahlbares Wohnungsangebot vorhanden ist.
Verena und Jens Schreiber, 38 und 37 Jahre alt, meistens Outdoorjackenträger, verdienten knapp zu viel für das Programm. Jens Schreiber sagt, sie könnten hier auf dem Riedberg ein gutes Leben führen. „Aber wenn eins unserer Einkommen sinkt oder wegbricht, müssten wir sofort raus.“ Die Suche war auch deshalb so schwierig, weil sie nicht mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben wollten.
Sie haben sich arrangiert auf dem Riedberg. Das hätten sie zu Beginn ihrer Suche nicht gedacht. „Für uns war der Riedberg eigentlich ein absolutes No-Go“, sagt Verena Schreiber. Beide sind Humangeografen, Verena Schreiber erforscht, welche Auswirkungen die Politik der Stadtentwicklung auf junge Menschen hat. Ihre Vorstellung von Stadt und das Leben auf dem Riedberg passten eigentlich nicht zusammen.
Während Ginnheim in mehr als 1.200 Jahren langsam gewachsen ist, begannen die Baumaßnahmen auf dem Riedberg 2001 und werden 2020 beendet sein. Ein komplett durchgeplantes Viertel für etwa 15.000 Einwohner, am Reißbrett entworfen. Von Anfang an stand genau fest, wo Einfamilienhäuser, Mehrfamilienhäuser, Eigentumswohnungen, Reihenhäuser, Grundschule, Gymnasium, Ärztezentrum und Supermarkt stehen werden. Wenn die Städteplaner an etwas nicht gedacht haben, wird es auch keinen Platz haben. Die Gewerbeflächen sind zum Großteil von Ketten gemietet. Kleine Geschäfte, die man in Ginnheim findet, fehlen auf dem Riedberg. Erst vor Kurzem ist hier ein kleines Jugendzentrum entstanden.
Viertel wie der Riedberg sind eine mögliche Lösung des Wohnungsproblems in den Städten. Der organische Charakter der alten Stadtteile fehlt jedoch. „Ginnheim ist gefühlt einfach netter gewesen, nicht so steril“, sagt Verena Schreiber. „Doch wir hatten da zu Beginn sicher eine akademische Überheblichkeit. Hier ist jetzt auch nicht alles verkehrt.“ Das liegt auch daran, dass viele Wohnungen in ihrem Block durch das Mittelstandsprogramm gefördert werden. In der Nachbarschaft leben Familien. Im Innenhof können Anton und Emma mit anderen Kindern spielen. Emma hat jetzt ihr eigenes Zimmer.
Für die Schreibers hat es sich gelohnt, etwas Neues zu wagen, auch am Stadtrand zu suchen.
Ihr Garten grenzt heute direkt an den Innenhof des gesamten Blocks. „Da ist immer viel los“, sagt Emma. Dass sie jetzt zur Schule, zum Tanzen und zum Besuch bei ihren Freundinnen immer mit der U-Bahn fahren muss, stört sie nicht.
Sie gingen freiwillig: Verena und Jens Schreiber
Frau Coghlan in München Verdrängung aus: Glockenbachviertel Miete vorher: 348 Euro warm Wohndauer: 12 JahreMiete nachher: 600 Euro warm Entfernung: 500 Meter
Anton geht das anders. Er fährt nicht gerne U-Bahn. „Da wird mir oft schlecht. Ich fände es besser, wenn wir die U-Bahn für uns alleine hätten“, sagt er. Seine Eltern überreden ihn dann manchmal mit kleinen Versprechungen.
Jens Schreiber ist sich mit seinem Sohn einig: Fahrradfahren war besser. Und er vermisst den großen Nidda-Park. „Die Parks hier auf dem Riedberg sind eigentlich nur geplante grüne Großflächen. Ich jogge jetzt mehr auf Asphalt.“ Der Nidda-Park hat 168 Hektar, so groß wie die Hamburger Außenalster. Außerdem gibt es keine Singvögel auf dem Riedberg, das ist Schreiber vor Kurzem aufgefallen.
In Ali Gülbols alter Wohnung leben jetzt Studenten, es ist die dritte WG seit zwei Jahren. Sie haben lange überlegt, ob sie mit einer Journalistin sprechen wollen und sich dann dafür entschieden, aber nur anonym. Sie haben Angst, dass alles wieder von vorne losgeht, sagen sie.
Sie sitzen da, aufrecht, angespannt, in ihrer grün gestrichenen Küche, die ihnen nie ganz gehören wird. Ein Italiener, ein Junge mit hellen Locken, zwei Mädchen, eines mit dunklen, eines mit hellen Haaren.
Ihre Wohnung war ganz normal inseriert, erzählen sie, bei immonet.de. 1.400 Euro warm, vier Zimmer. Mit ihnen hatten sich 18 andere Parteien beworben. Sie hätten nie gedacht, dass sie die Wohnung bekommen.
Die ersten drei Monate blieb alles ruhig. Nur auf einer WG-Party bei den Nachbarn hörten sie komische Fragen. Wie es so sei in ihrer neuen Wohnung. Ganz cool, sagten sie. Warum?
Doch am Tag, als das Mädchen mit den dunklen Haaren einzog, klingelte es abends an der Tür. Ein Mann und eine blonde Frau, „Typ schwarzer Block“, erzählt sie später. Sie wollten sie darüber informieren, dass Familie Gülbol aus dieser Wohnung zwangsgeräumt wurde. Es war wohl auch als Warnung gemeint. Und ihr Freund, der mit ihr die Tür geöffnet hatte, erinnerte sich plötzlich: Er selbst war bei der Blockade im Morgengrauen dabei gewesen. Und mit ihm zwei andere, die gerade beim Umzug geholfen hatten. Niemandem war es aufgefallen, dass sie in genau diese Wohnung, vor der sie zwei Jahre zuvor noch protestiert hatten, nun gezogen waren.
Das Mädchen mit den dunklen Haaren googelte ihre Straße. Dann kamen die Bilder. Sie heulte. Sie rief ihre Mitbewohner an. Sie wollte sofort raus.
Die Schreibers in FrankfurtVerdrängt aus: Ginnheim Miete vorher: 1.150 Euro warmWohndauer: 7 Jahre Miete nachher: 1.500 warm Entfernung: 6.000 Meter
Zwei Tage später, als alle von ihren Reisen zurück waren, versammelte sich die WG. Ab dann Abend für Abend, stundenlang, und sie überlegten, was sie tun sollten.
Sie dachten: Wenn wir bleiben, ist das eine aktive Entscheidung. Sie dachten auch: Was bringt es auszuziehen, wenn die Miete mit den Nächsten weiter steigt? Heute sagen sie: Wir sind Teil einer Geschichte, der wir uns nicht entziehen wollen.
Eines Abends sind zwei von ihnen die Treppen hoch, bis zu Gülbols Dachgeschosswohnung, und haben geklopft.
Ständig stört die Vergangenheit.
Ali Gülbol hat ihnen gesagt, dass er nicht mit ihnen sprechen möchte. Er wusste schon, was sie sagen werden, erzählt er später: Sie hätten nichts anderes gefunden und so weiter. Er hätte sich gewünscht, dass sie wieder ausziehen, dass sie damit ein Zeichen setzen.
Wenn die Studenten ihre Wohnung zeigen, machen sie das ruhig, aber distanziert: die zwei Bäder, die neuen grauen Fliesen auf dem Boden. „Hier, alles saniert“, sagen sie. Aber auch: die Fenster, die klemmen, die Spüle, die leckt. Sie haben der Verwaltung nichts von den Mängeln gesagt, wollen den Kontakt auf ein Minimum reduziert halten. Sie leben wie mit einem Schatten.
Wissen sie, was früher wo stand? Welcher Raum welcher war? Haben sie auf den Videos danach geforscht? „Oh Gott, hat man auf den Videos die ganze Wohnung gesehen?“, fragt das Mädchen mit den dunklen Haaren entsetzt.
Gülbols haben zwei Jahre nach der Räumung immer noch keine neue Bleibe gefunden. Die Eltern von Ali Gülbol haben gerade wieder verkündet, noch ein paar Monate länger in der Türkei bleiben zu wollen. Necmiye Gülbol sagt: „Wir sitzen auf einer schwarzen Wolke. Irgendwann wird sie brechen und es wird regnen. Und dann wissen wir, was wir machen.“
■ Paddy Bauer, 26, ist Autor der taz.am wochenende. Er studierte Stadtentwicklung und lebt in einer Frankfurter WG ■ Lisa Schnell, 30, ist Autorin der taz.am wochenende. Sie fand die Wohnungssuche in Berlin schwieriger als die in München■ Steffi Unsleber, 27, ist Redakteurin der taz.am wochenende. Manchmal träumt sie von einer Wohnung am Berliner Stadtrand
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