: Hessen hieß früher Hamburg
Keine Mehrheit für niemanden ist das wahrscheinlichste Resultat bei der Wahl in Hamburg am morgigen Sonntag. In den 1980er Jahren hieß so etwas Hamburger Verhältnisse, heute hessische. Der Ausweg ist die große Koalition
Die CDU wird nach allen Umfragen ihre absolute Mehrheit in der Hamburger Bürgerschaft, die sie vor vier Jahren mit 47,2 Prozent erreichte, verlieren, sehr wahrscheinlich aber stärkste Fraktion bleiben. Die Prognosen liegen zwischen 38 und 42 Prozent. Zweitstärkste Fraktion wird wieder die SPD werden, die sich von 30,5 vor vier Jahren auf 33 bis 36 Prozent steigern soll. Die Grün-Alternative Liste (GAL) droht einige ihrer bislang 12,3 Prozent einzubüßen. Sie wird auf nur noch 11 bis 9 Prozent geschätzt. Bei dieser Wahl wollen noch zwei bislang außerparlamentarische Parteien kräftig mitmischen: Die Linke und die FDP. Die Linkspartei wird mit 6 bis 8 Prozent auf Anhieb der Einzug in die Bürgerschaft vorhergesagt. Die FDP turnt mit 3,5 bis 5 Prozent am Abgrund. 2004 war sie nach dem Bruch der Koalition aus CDU, Schill und FDP mit nur noch 2,8 Prozent aus dem Hamburger Rathaus geflogen. Alle sonstigen Parteien kommen nach allen Umfragen zusammen auf zwei bis drei Prozent. SMV
VON SVEN-MICHAEL VEIT
Es war im Sommer 1982. Da saßen eine sehr kleine Frau und ein sehr großer Mann im Hamburger Rathaus vor der offenen Tür zu einem der prunkvollen Säle, in dem sich zwei Delegationen zu Sondierungsgesprächen treffen wollten. Vor sich ein Schild mit der Aufschrift: „Ruhe bitte. Wir reifen gerade politisch, damit die SPD uns lieb hat.“ Thea Bock und Thomas Ebermann waren die Doppelspitze der Grün-Alternativen Liste (GAL), die bei der Wahl im Juni erstmals in die Bürgerschaft der Hansestadt eingezogen war. Die „Sponti-Partei“, wie die Grünen seinerzeit häufig etikettiert wurden, wollten „die Verhältnisse zum Tanzen bringen“, Hamburger Verhältnisse eben.
Fundamentalopposition wollte die GAL machen und die SPD allerhöchstens tolerieren. Die führte unter ihrem Bürgermeister Klaus von Dohnanyi Scheinverhandlungen, ließ diese platzen und gewann bei den Neuwahlen im Dezember die absolute Mehrheit. Vier Jahre später wiederholte sich das Spiel: Wahl im November 1986, Tolerierungsgespräche, und bei der Neuwahl im Mai 1987 zog mit der FDP ein der SPD genehmer Koalitionspartner ins Parlament ein.
Heute ist von hessischen Verhältnissen die Rede, die auch an der Elbe drohen könnten. Denn jetzt ist auch in Westdeutschland eine fünfte Kraft hinzugekommen: Die Linke. Im Wiesbadener Landtag macht sie – anders als in Bremen und Niedersachsen – die Regierungsbildung derzeit noch unübersichtlich, in Hamburg wäre das kaum anders: Keine Mehrheit für niemanden sagen seit Wochen alle Umfragen voraus (siehe Kasten).
Geschichte wiederholt sich doch, Hessen hieß vor einem Vierteljahrhundert Hamburg. Die Linke will „knallharte Opposition“ machen, eventuell könnte sie sich dazu durchringen, einen rot-grünen Minderheitssenat zu tolerieren. So fing die GAL auch mal an. SPD und Grüne zeigen den Schmuddelkindern auf Linksaußen die kalte Schulter, so wie damals der sozialdemokratische Nadelstreifen von Dohnanyi den flegelhaften Grünen, die er für spätpubertierende und verirrte Jusos hielt.
Anders als vor gut zwei Jahrzehnten aber sind Neuwahlen dieses Mal so gut wie ausgeschlossen. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man nicht ohne Not so lange wählen lassen kann, bis das Ergebnis genehm ist. Außerdem war der vorige Urnengang am 29. Februar 2004 bereits – Schill! – eine vorgezogene Neuwahl nach nur 29 Monaten. Folglich wird es dieses Mal bei unklaren Mehrheitsverhältnissen einen Zwang zur Einigung geben. Und die wahrscheinlichste Konsequenz ist die große Koalition.
Es ist die Konstellation, über die vorher nie geredet wird, weil niemand sie will. Die aber – siehe den Bund und die Nachbarn in Schleswig-Holstein – gemacht wird, wenn nichts anderes geht: Alle Optionen mit der Linken scheiden aus. Die FDP bleibt draußen vor der Tür. Die FDP kommt rein, blinkt aber weder in einer rot-grünen noch schwarz-grünen Ampel mit, weil sie mit der GAL wie Feuer und Wasser ist. Schwarz-Grün scheitert am Streit über das Schulsystem und die Rettung des Weltklimas durch Kohlekraftwerke. Dann schlägt der großen vaterstädtischen Koalition die Stunde. Und zwar ganz hanseatisch.
Dass die beiden Spitzenkandidaten Ole von Beust und Michael Naumann als Erster und Zweiter Bürgermeister zusammenarbeiten könnten, steht außer Zweifel. Es sei denn, Naumann will sich das mit 66 Jahren nicht mehr antun. Dann klären die beiden Kronprinzen vom rechten SPD-Flügel untereinander die Rangfolge: Der 51-jährige Ingo Egloff, SPD-Parteichef und in Naumanns Team Schatten-Wirtschaftssenator, und der 37-jährige Michael Neumann, Fraktionschef und Schatten-Innensenator.
Thematisch würden CDU und SPD sich locker zusammenraufen können. Mehr Geld für Arbeitsmarktförderung und Sozialpolitik würde die SPD durchsetzen, die CDU würde mit ihrem Parteichef und Finanzsenator Michael Freytag ihre Haushaltspolitik fortführen. Das Gymnasium würde nicht angetastet und die Abschiebepolitik etwas humaner werden, die SPD dürfte im Schatten des Kohlekraftwerks Moorburg die Stadt etwas ökologischer machen, und bei Wirtschaft und Standort, Hafen und Elbe stimmen die beiden Fraktionen im Rathaus ohnehin meist miteinander gegen die Grünen.
Politik, so werden sie dann sagen, ist eben kein Wunschkonzert. Der Wähler wollte es ja nicht anders. Watt mutt, datt mutt – ganz hanseatisch.
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