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Lea-Sophies Tod war vermeidbar

Untersuchungsbericht der Schweriner Stadtverordneten zum Fall des verhungerten Mädchens rügt „eklatante Mängel“ beim Jugendamt. Jetzt will die Ratsmehrheit einen Bürgerentscheid über die Abwahl von Oberbürgermeister Norbert Claussen

VON GERNOT KNÖDLER

Schwerins Oberbürgermeister Norbert Claussen muss sich auf seine mögliche Abwahl gefasst machen. Mit Ausnahme der CDU/FDP-Fraktion wollen am Montag alle Parteien in der Stadtverordnetenversammlung für einen Bürgerentscheid über Claussen stimmen. Dem Christdemokraten wird unter anderem vorgeworfen, er habe im Fall des verwahrlosten und verhungerten Mädchens Lea-Sophie falsch gehandelt. Ein Untersuchungsausschuss der Stadtverordneten war am Donnerstag zu dem Schluss gekommen: „Der qualvolle Tode von Lea-Sophie wäre vermeidbar gewesen.“

Die Fünfjährige war am 20. November 2007 mit Hungerödemen und offenen Wunden in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Lea-Sophie war mit Fäkalien beschmiert, die Haare fielen ihr büschelweise aus. Als sie am nächsten Morgen starb, wog sie gerade mal 7,4 Kilo.

Dem Bericht zufolge hätte Lea-Sophies Tod vermieden werden können, wenn das Jugendamt den Hinweisen aus der Familie und der Nachbarschaft konsequent nachgegangen wäre. Der Untersuchungsbericht rügt „eklatante Mängel“ beim Jugendamt: Akten wurden schlampig geführt, die Berater tauschten sich nicht genügend untereinander und mit ihren Vorgesetzten aus. Das Amt habe sich auf die Einschätzung der Großeltern verlassen, statt selbst nach dem Rechten zu sehen. „Individuelle, strukturelle und Leitungsprobleme“ seien sichtbar geworden.

In der ersten Chronologie der Stadtverwaltung liest sich das so: Mehr als ein Jahr vor Lea-Sophies Tod meldet sich ihr Großvater beim Jugendamt. Er mache sich Sorgen, weil das Kind nicht in den Kindergarten gehe. Das Jugendamt vereinbart mit den Eltern einen Beratungstermin, den diese aber nicht wahrnehmen.

Im Juni 2007 hakt der Großvater wieder beim Jugendamt nach. Am 12. November kommt ein anonymer Anruf aus der Nachbarschaft: Die Mutter sei mit ihrem neu geborenen Kind kaum draußen zu sehen. Das ältere Kind müsse wohl inzwischen anderswo leben.

Noch am selben Nachmittag klingeln zwei Mitarbeiter des Jugendamts an der Tür der Familie. Weil keiner öffnet, hinterlassen sie einen Zettel. Tags darauf erscheinen die Eltern mit einem gut gepflegten Säugling auf dem Amt. Die ältere Schwester befinde sich bei Bekannten, sagen sie. Sieben Tage später ruft der Vater für sein verdurstendes Kind den Notarzt.

In der Chronik der Verwaltung taucht nicht auf, dass zwischendurch, am 16. November, noch einmal der Großvater anruft und das Jugendamt bittet einzuschreiten. Einen entsprechenden Vermerk habe seine Fraktion am 21. Dezember selbst in den Akten recherchiert, sagt der stellvertretende SPD-Fraktionschef Daniel Meslien. Das Amt verpasst auch diese Chance. „Es hätte in jeder anderen Stadt passieren können“, sagt Oberbürgermeister Claussen drei Tage nach Bekanntwerden des Falls – „und der, dem es passiert ist, hat in diesem Fall Pech gehabt.“

Diesen Hinweis auf das „Pech“ haben viele Schweriner Claussen übel genommen. Die SPD-Fraktion begründet ihre Rücktrittsforderung damit, dass der Bürgermeister mit dem letzten Nachhaken des Großvaters die wichtigste Information verheimlicht habe. Zudem habe Claussen aus ähnlichen Fällen in Bremen (Kevin) und Hamburg (Jessica) keine Konsequenzen gezogen.

Der Fall Lea-Sophie sei im übrigen „nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, sagt der SPD-Abgeordnete Meslien: Claussen habe versucht, gegen den Willen vieler Schweriner die städtische Wohnungsgesellschaft zu verkaufen und im Schlossgarten ein Autorennen veranstalten wollen.

„Mir ist nicht zu Ohren gekommen, dass etwas verheimlicht worden wäre“, kontert CDU-Fraktionschef Gert Rudolf. Dem Ausschuss hätten alle Akten vorgelegen. Die Verwaltung selbst habe mit Hilfe von Beratern von außen alles aufgelistet, was schief gelaufen sei. Den Versuch, Claussen abwählen zu lassen, bezeichnet er als Sandkastenspielchen: „Sie sagen sich, den Claussen können wir kriegen.“

Eine Abwahl des Sozialdezernenten Hermann Junghans war Ende Februar überraschend gescheitert. SPD, Linke, Grüne und Unabhängige verfügen zusammen zwar knapp über die nötige Zweidrittel-Mehrheit gegenüber der Fraktionsgemeinschaft aus CDU und FDP. Bei der geheimen Abstimmung scherten dann sieben von 30 Abgeordneten aus.

Am Montag werde das nicht so leicht möglich sein, sagt der SPD-Mann Meslien. Denn über den Bürgerentscheid werde namentlich abgestimmt. Claussen werde sich wohl am 27. April einem Bürgerentscheid stellen müssen.

Da Junghans nicht abgewählt wurde, sei es absurd, die Abwahl Claussens zu fordern, findet Christdemokrat Rudolf. Der Bürgerentscheid sei eine Notbremse. „Die betätigen Sie ja auch nicht nur, weil Sie eine Station verpasst haben“, sagt der CDU-Fraktionschef.

Ganz freisprechen lässt sich Claussen von der politischen Verantwortung nicht: Der erste Untersuchungsbericht zu dem Fall weist nach, dass der Bürgermeister das Personal des Jugendamtes stark verringerte. Sozialarbeiter beklagten ihre Überlastung. Es gab keine Fortbildungen, keine Supervision – alles Dinge, die Claussen jetzt ändern will.

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