ortstermin: Ditfurth liest aus ihrer Meinhof-Biografie: Mein Gott, Jutta!
Eigentlich ist die Fabrik in Hamburg Ottensen für Konzerte bekannt, aber jetzt ist etwas anderes im Gange: Durch die hohe Halle ziehen sich Stuhlreihen, und vor der Bühne zweigen links und rechts, wie das Querschiff zum Mittelschiff in einer Kreuzbasilika, weitere Zuschauerränge ab. Am Bühnentisch, oder vielleicht auch dem Altar sitzt Jutta Ditfurth. Ihre Hand ruht auf einem Buch, sie nimmt es und hält es hoch. Auf dem schwarzen Cover prangt ein helles, hübsches Frauengesicht, darunter ein flammenroter Schriftzug: „Ulrike Meinhof. Die Biographie“. Es ist ein dickes Buch, und schwer wiegen alle Wahrheiten, und darum legt Ditfurth das Buch bald wieder auf den Tisch. Sie schlägt es nicht auf, das braucht sie nicht, denn ihre Worte strömen auch so. Eine Lesung war angekündigt. Es ist eine Litanei.
Ich sehe mich nach einem freien Platz um und muss dabei feststellen, dass ich der Jüngste im Saal bin. In den vorderen Reihen scheint das Durchschnittsalter bei 70 Jahren zu liegen, hinten und an den Seiten, wohin ich mich flüchte, sinkt es leicht. Als ich mich setzen will, dreht sich eine Frau zu mir um, ich schaue in starre Augen, die durch die Brillengläser ins Bedrohliche wachsen, in Augen, unbeugsam wie das Gesetz, und als ich auf die Bank sinke, erfüllt mich das Gefühl, ein Verbrechen zu begehen. Vielleicht stört die Dame ja nur mein orangener Pullover, denke ich unter dem strengen Blick, er leuchtet allerdings etwas grell zwischen all dem Grau und Beige und Braun des Publikums.
Zu meinem Glück geht jetzt aber einen Raunen durchs Publikum, Ditfurth hat etwas vom „Antikommunismus als staatstragender Religion“ gesagt und ängstlich, etwas zu verpassen, wendet sich die Frau vor mir ruckartig wieder zur Bühne.
Dort werden jetzt die Männer vom Spiegel abgewatscht, nebst einigen anderen Journalisten, die Ditfurth nicht in allem glauben wollen. „Aber wenn ich mal provoziere“, sagt Ditfurth, und lehnt sich zurück, „dann sollten meine Gegner langsam wissen, dass ich über Kubikmeter Fakten verfüge, um das zu stützen.“ In den Gesichtern ringsum lässt sich lesen wie in einem Buch, auch wenn nur ein einziges Wort drin steht: Ja (id est Amen)!
Und es wird noch besser: Ditfurth demontiert jetzt Aust. Der Baader-Meinhof Komplex – „unglaublicher Schrott“, der Autor – „ein kleiner Schnippsler bei Konkret, der aus Stade kommt und sich zum Redakteur hocharbeitet“. Das Publikum überhört den Standesdünkel der hier bei der Tochter von Heilwig von Raven und Hoimar von Ditfurth mitschwingt und ist hellauf begeistert. Man erlebt es nicht alle Tage, die Großen so klein zu sehen.
Kein Wunder, dass schließlich eine Frau in den hinteren Reihen ihre Digitalkamera zückt und diese großen Momente für die Nachwelt oder die Nachbarin festzuhalten beginnt. Aber Ditfurth wäre nicht Ditfurth, wenn sie nicht alles mitbekäme. „Schalten Sie bitte die Kamera ab“, kommt es ruhig, aber bestimmt von der Bühne, „ich mag es nicht, ungefragt gefilmt zu werden.“ Ich nicke verständig, im Akkord mit den anderen – gewahre dann aber mit Schrecken, wie die Frau vor mir aufsteht. „Hinter mir sitzt ein Mann, der schreibt die ganze Zeit mit und hat auch nicht gefragt“, tönt ihre schrille Stimme. Ein großes Hoh und Hah erhebt sich im Saal, und alle Blicke richten sich auf mich, brennende sind dabei, bohrende, beißende, die Zeit steht still, doch dann, mein Gott, spricht Ditfurth: „Das ist okay“.
MAXIMILIAN PROBST
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