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Marburger, zur Sonne!

Die Satzung soll es richten: In der hessischen Studentenstadt soll in spätestens 20 Jahren jedes Haus mit einer Solaranlage ausgestattet sein

„Wir haben viele Dächer und wir haben viel Sonne, warum sollten wir das nicht nutzen?“

AUS MARBURG ANNA DOBELMANN

Nur der Strand fehlt. In Marburg scheint die Sonne und das seit Tagen. Am Fluss wird gegrillt, und auch bei geöffnetem Schiebedach wird es den grölenden Fußballfans im Autokorso nicht zu kühl, wenn sie hupend an den pitoresken Fachwerkhäusern der Innenstadt vorbeifahren. „Wir haben viele Dächer und viel Sonne“, konstatiert der grüne Bürgermeister Franz Kahle. „Warum sollen wir die nicht nutzen?“ 400 solarthermische Anlagen und 209 Fotovoltaik-Anlagen gibt es heute in der kleinen Studentenstadt. Dem Bürgermeister ist das aber nicht genug. In 20 Jahren will er auf jedem Marburger Dach eine solarthermische Anlage sehen.

Deswegen will das Stadtparlament am heutigen Freitag über die Satzung zur „Verbindlichen Nutzung der Solarenergie in Gebäuden“, abstimmen. Wird die Satzung das Stadtparlament passieren, was bei der rot-grünen Mehrheit als sicher gilt, muss vom 1. Juli dieses Jahres an jeder Neubau eine solarthermische Anlage auf dem Dach installieren; je 20 Quadratmeter Wohnfläche ein Quadratmeter Solarzellen, jedoch mindestens 4 Quadratmeter pro Anlage. Auch bei größeren Anbauten, beim Austausch von Heizungsanlagen oder größeren Dachsanierungen ist der Umweltschutz in Zukunft nicht mehr nur abhängig vom guten Willen der Bauherren, sondern wird zur Bürgerpflicht; ein bundesweit bisher einmaliges Konzept.

„Das ist ein massiver Eingriff in die Eigentumsfreiheit“, monieren die Gegner wie der Lobbyverband namens Haus und Grund. „Wir sind nicht gegen den Umweltschutz“, stellt Rainer Flatter, Geschäftsführer des Landesverbandes klar, doch die Satzung sei insofern ein „diktatorisches Element“, da dem Einzelnen die Freiheit genommen werde, selbst darüber zu bestimmen, wie er heizen möchte.

Franz Kahle, grüner Bürgermeister und gleichzeitig Baudezernent der Stadt Marburg, versteht die Aufregung über seine Pläne nicht. „Ja, es gibt eine Diktatur“, sagt er schmunzelnd „eine Diktatur der Verhältnisse.“ Öl- und Gasreserven gingen zur Neige. „Auch wenn wir nicht wissen wie lange das dauern wird, spürt das auch jetzt schon jeder Bürger an der Zapfsäule und auf der Gasrechnung.“ Erst vergangene Woche gaben die Marburger Stadtwerke bekannt, dass die Gaspreise um 20 Prozent erhöht werden müssten.

In Marburg selbst merkt man wenig von dem Rummel. Bei 25 Grad und wolkenlosem Himmel sitzen einige Studierende auf dem historischen Marktplatz in der Sonne. Von der Solarpflicht habe er noch nichts mitbekommen, meint Benjamin Stock. „Im Prinzip ist das doch eine sinnvolle Sache. Menschen, die Häuser bauen können, sollten auch Verantwortung für die Umwelt übernehmen“ meint der 25-Jährige. „Wichtig ist jedoch zu verhindern, dass die Solarpflicht zu einer weiteren Selektion derjenigen führt, die es sich überhaupt leisten können, Häuser zu bauen“, fügt der Soziologie-Student hinzu. Jedenfalls wäre ein ausgeklügeltes System wichtig, welches ausreichende Subventionen für finanziell schwächere Personen und Projekte gewährleistet.

Das meint auch der Lobby-Verband Haus und Grund. „Vor allem kleine Hauseigentümer werden massiv finanziell betroffen“, beklagt ihr Sprecher Flatter und fordert zumindest eine Verbesserung der Satzung in dieser Richtung.

Über ein solches Förderprogramm hat sich die rot-grüne Mehrheit im Stadtparlament auch schon Gedanken gemacht. Angedacht ist ein Konzept, das neben den Fördermöglichkeiten des Bundes, wie etwa billige Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), weitere 5 Prozent der Kosten übernimmt. „Der Umstieg auf Solarwärme ist jedoch auch ohne Förderung wirtschaftlich“, betont Bürgermeister Kahle. In 10 bis 15 Jahren hätten sich die Kosten der Installation amortisiert. „Wir haben viele Dächer und wir haben viel Sonne, warum sollten wir das nicht nutzen?“, fragt er immer wieder.

In 20 Jahren soll jedes Marburger Dach eine Solaranlage haben, hofft der Bürgermeister.

Seit Ende vergangenen Jahres wird deswegen an der Satzung gebastelt. Nach der überarbeitenden Fassung können ersatzweise auch Fotovoltaik-Anlagen installiert werden, wenn dies besser zum Energiekonzept des Hauses passt. Auch Kraft-Wärme-Kopplung oder Energieeinsparung sind als Ersatz denkbar, etwa wenn die Hausdächer überwiegend im Schatten liegen. Unternehmen schließlich können sich von der solaren Baupflicht befreien lassen, wenn sie der Stadt ein alternatives Energiekonzept für ihre Gebäude vorlegen.

Gegen diese letzte Ausnahme richtet sich auch die Kritik der Linkspartei Hessens. „Wir unterstützen zwar die Solarsatzung“, meint Hajo Zeller, Linke-Vorsitzender des Landkreises Marburg-Biedenkopf. „Doch langfristig ist das zu wenig.“ Vor allem in der Wärmedämmung müsse noch nachgelegt werden.

Nichtsdestotrotz muss Bürgermeister Kahle sein Konzept im bundesdeutschen Blätterwald mehr verteidigen als in der grünen Studentenstadt. Dort sitzen einige Mütter im Schatten der hohen Bäume des Alten Botanischen Garten im Herzen Marburgs, während ihre Kinder die Enten im Teich füttern. Auf dem Brückengeländer hat jemand „Freiraum statt Lehrreich“ geschrieben. Bei der Landtagswahl stimmten 44,4 Prozent der Wähler für die SPD. Fast ein Drittel der 80.000 Einwohner sind Studierende, ein weiteres Drittel arbeitet an der Universität.

Der Begründer der „Marburger Schule“ war der marxistische Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, der 1951 an die Philipps-Universität berufen wurde. Er hatte einst den Passus „Eigentum verpflichtet“ als sozialistisches Element des Grundgesetzes ausgelegt.

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