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Suche nach dem Bösen

Am 13. September 2001, zwei Tage nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, stand dieser Kommentar auf der Titelseite der taz. Hat er eigentlich heute noch Bestand? Zwei Kriege in Afghanistan und im Irak später? Entscheiden Sie selbst

9/11

Ein sonniger Septembermorgen, zwei Türme, vier Flugzeuge. 3.000 Tote. Apokalyptisch-schauerschöne Bilder im Dauerloop. Der 11. September 2001 markiert den Beginn eines neuen Feindbildes des Westens, einer neuen Sichtweise der USA auf die Welt. Die Anschläge helfen direkt, zwei Kriege zu begründen. Bei Afghanistan ziehen die Verbündeten noch einhellig mit, bei Irak dagegen nicht mehr. Trotzdem wäre der Irakkrieg ohne den 11. September in den USA nicht zu verkaufen gewesen.

Gerade deshalb gibt es um diesen größten live übertragenen Terroranschlag aller Zeiten die hartnäckigsten Theorien und Beweisversuche, er sei von der US-Regierung selbst initiiert worden. So markiert der 11. September, beflügelt durch die Multiplikationsmöglichkeiten des Internets, auch das Auseinanderdriften verschiedener Weltbilder, die immer weniger Bezug aufeinander nehmen – innerhalb der westlichen Gesellschaften, aber erst recht weltweit.

Die Bedrohungen etwa, denen die Menschen in Lateinamerika ausgesetzt sind, haben mit al-Qaida nichts zu tun. Unter den Auswirkungen des 11. September und der US-Politik seither leiden jedoch auch sie.

Es stimmt: Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Der Tag, der 11. September 2001, hat die Welt verändert.

Noch sind die Flugschreiber nicht ausgewertet, noch herrscht Unklarheit über Täter wie Hintermänner der Terroranschläge von New York und Washington, da werden wir in Deutschland schon eingedeckt mit der bereitliegenden Großanalyse. Deren Kernsatz hat gestern der Historiker Michael Stürmer formuliert. Er lautet: Der Clash of Civilizations ist jetzt blutige Realität.

Zweifellos sind die Massenmorde vom Montag Ausdruck äußerster Barbarei. Und es ist richtig, sie als Angriffe auf die zivilisierte Welt zu kennzeichnen. Nur: Die zivilisierte Welt ist nicht identisch mit der westlichen. Aber genau diese Identifikation schwingt mit in einer Reihe politischer Stellungnahmen.

Samuel Huntingtons Theorie vom „Clash of Civilizations“ (wörtlich „Zusammenprall der Kulturen“) als Kennzeichen der Politik des 21. Jahrhunderts bewegt sich auf einer Einbahnstraße von Eroberung und Unterdrückung, Sieg und Vernichtung. Sie negiert die Möglichkeit des Ausgleichs, der friedlichen, gegenseitigen Durchdringung der „Zivilisationen“. Sie folgt dem Freund-Feind-Schema. Entweder WIR oder SIE. Das macht sie jetzt so nützlich für die Einstimmung der Öffentlichkeit für eine Politik bedingungsloser Konfrontation.

„Die Welt wird nie wieder so sein wie vor dem 11. September.“ Mit diesem eher trivialen Ausgangssatz verbinden eine Reihe von Kommentatoren die Voraussage, künftig würden Sicherheitsbedürfnisse sowohl die Freiheitsrechte im Innern der demokratisch verfassten Staaten als auch die Möglichkeiten weltweiter friedlicher Konfliktbewältigung überschatten. Aus der Tatsache, dass man, mit Klappmessern bewaffnet, erfolgreich die Zentren der Großtechnologie ausschalten, ja zum Einsturz bringen kann, wird geschlussfolgert, die Welt bewege sich auf einen Zustand allgegenwärtiger Unsicherheit zu. Da eine noch so lückenlose Raketenabwehr gegen mit archaischen Mitteln ausgeführte Angriffe wehrlos sei, gelte es, das Sicherheitsnetz über möglichst viele neuralgische Punkte des Alltagslebens zu werfen. Das sei der Preis, den wir zu zahlen haben.

Nach der Beobachtung der amerikanischen Historikerin Anjana Shrivastava riefen am Dienstag Polizisten den aus dem südlichen Manhattan fliehenden Menschen zu: „Schaut nicht zurück!“ Diesem gut gemeinten Ratschlag sollten wir jetzt keinesfalls folgen. Denn die Fixierung auf den Augenblick des Schreckens trübt den Blick auf seine Ursachen. Nehmen wir an, die Attentäter wären tatsächlich aus dem Umkreis fanatisierter islamischer Gruppen hervorgegangen. Dann bleibt immer noch zu fragen, aus welchen Motiven sie sich zum Massenmord und Selbstmord entschlossen. Eine überkommene, kulturell bestimmte Disposition? Oder eher die Antwort auf das Scheitern einer friedlichen Verhandlungslösung im Nahostkonflikt? Hat der 11. September endgültig den Weg blockiert, der durch das Oslo-Abkommen eröffnet wurde? Hat die Politik ausgedient? Das sollen wir glauben.

Die Bilder von palästinensischen Freudenfesten im Westjordanland als Antwort auf den Massenmord in New York sind wirklich ekelhaft. Aber wir sollten uns durch sie keinen Augenblick verführen lassen, das palästinensische Volk als eine Meute gefühlloser Barbaren abzustempeln. Hören wir auch auf die Stimmen des Abscheus und Mitleidens aus der arabischen Welt, die als taktisch motiviert zu bezeichnen allzu einfach wäre.

Schlägt jetzt die Stunde der Einheit der westlichen Welt, wo jeder wissen muss, zu wem er gehört? Solidarität ist in der Tat nötig, mit den Opfern, mit dem Volk der USA, auch mit seiner Regierung. Aber bitte keine Aufstellung in Reih und Glied, kein Blankoscheck für militärische Unternehmungen, die mehr dem verletzten Selbstgefühl entspringen als dem Versuch, die Bande der Attentäter dingfest zu machen. Letztlich ist es die Politik, die entscheidet.

CHRISTIAN SEMLER, 69, ist taz-Autor. Den 11. September 2001 verbrachte er „vor der Glotze in der Kulturredaktion der taz“.

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