: Grausame Privatsachen
aus Charleville-MézièresDOROTHEA HAHN
Sie kann jede Menge Dinge aufzählen, die ein „anständiges“ Mädchen nicht tun darf. Einen eng sitzenden Minirock tragen und Bein zeigen. Die Lippen knallrot schminken. Zigaretten rauchen. Flirten. In die Disko gehen. Das alles findet Hafida* „vulgär“. Wenn eine es trotzdem tut und die Jungen dann über sie herfallen, in einem Keller und reihum, ist das für sie „normal“. Soll sich die „Tussi“ nicht beklagen. Hat sie es „selber so gewollt“.
Hafida ist 14. Hat ihre schwarzen Locken zu einem Dutt hochgesteckt. Trägt knöchelhohe flache Schnürschuhe und Jeans. Wächst in einer Vorstadt am Rand von Charleville-Mézière auf. Hat Eltern, die aus Marokko stammen und sie streng erziehen. „Zum Glück“, sagt sie. Und große Brüder, die über sie wachen. Das ist bei ihr genauso wie bei ihren Freundinnen Fatiha und Samira. Alle drei haben Röcke über ihre Hosen gestülpt, wie es gegenwärtig „style“ ist. Eingehakt spazieren sie an diesem Spätnachmittag auf dem abgewetzten Rasen zwischen den 17 Stockwerke hohen Wohntürmen auf und ab.
Ronde Couture ist eine der zwei Vorstädte von Charleville-Mézières in den französischen Ardennen. Eine Stadt in der Stadt. Eigene Schulen, eigene Bibliothek, eigenes Jugendzentrum, eigenes Arbeitsamt. Mehr als 10.000 Menschen leben in den dünnwandigen Sozialwohnungen. Seit die Metallfabriken in der Region schließen, treffen sich tagsüber erwachsene Männer unter den Betonarkaden rund um den Supermarkt.
Ein paar Kilometer weiter, auf dem im Renaissance-Stil gebauten Platz Ducale im Zentrum von Charleville-Mézières, fallen den Passanten Stichworte wie „Drogen“, „Banden“ und „Unsicherheit“ zu der Vorstadt ein. Sie denken an die Polizeiwache, die kürzlich ausgebrannt ist. Und an den Jungen, der vor den Augen seiner Mutter in einem Kebab-Imbiss mit einem Kopfschuss ermordet wurde. Nur wenige waren je in Ronde Couture. Dass dort vor vier Jahren ein Mädchen am Vorabend der Abreise in die Ferien in der Türkei aus dem 17. Stock ihres Wohnturms gesprungen ist, hat sich nicht mal bis ins Rathaus der 55.000-Einwohner-Stadt herumgesprochen. Ihre Brüder hatten sie mit einem Jungen erwischt – mit einem „Franzosen“, was alles noch schlimmer machte –, und die Familie hatte beschlossen, sie in der Türkei zu verheiraten.
„Sie ist Opfer der Gewalt in unseren Ghettos geworden“, sagt eine 25-Jährige in einem Stadtteilzentrum in der Nähe von Ronde Couture. Loubna Méliane trägt quer über den Busen eine knallrote Aufschrift auf dem weißen T-Shirt: „Ni pute, ni soumise“ – weder Nutte noch unterwürfig. Seit Anfang Februar tourt sie mit vier anderen Mädchen, die denselben Slogan auf ihren T-Shirts tragen, und mit zwei Jungen durch Frankreich. Alle sieben sind in Vorstädten aufgewachsen. Die Gewalt, gegen die sie protestieren, kennen sie aus der Nähe.
Bei ihrer Tour „gegen Diskriminierung und Ghettos“ machen sie in 23 Vorstädten halt. In jeder organisieren sie eine Debatte. Und in jeder beginnen sie mit dem Gedenken an eine junge Märtyrerin: beim Start, in Vitry südlich von Paris, ist es die von ihrem Exfreund verbrannte 17-jährige Sohane (siehe Kasten), später das Opfer einer kollektiven Vergewaltigung, später ein Mädchen, das in das Heimatland der Vorfahren entführt wurde. Anschließend sammeln sie Unterschriften für einen Aufruf gegen eine „Gesellschaft, die Frauen sozial unterdrückt“ und gegen „Männer in unseren Vorstädten“, die Frauen im Namen der Tradition die elementarsten Rechte verweigern. Morgen, am 8. März, dem Internationalen Frauentag, wollen sie die Unterschriften in Paris dem Premierminister übergeben.
Im Hintergrund sorgen das Netzwerk „Kumpelhäuser“ und die Organisation „SOS-Racisme“ für die Logistik. Die den Sozialdemokraten nahe stehende „SOS-Racisme“ knüpft damit an eine andere Vorstadtbewegung aus den 80er-Jahren an. Damals ging es um den Rassismus. Motto: „Rühr meinen Kumpel nicht an“. Die neue Bewegung konzentriert sich auf die Mädchen. Als „feministisch“ versteht sie sich trotzdem nicht.
In Charleville-Mézières debattieren die sieben jungen Leute in dem Stadtteilzentrum mit gut zwanzig Frauen und Männern, die ihre Eltern sein könnten. „Es macht mich wütend“, sagt Yamina André, 46, „dass ihr immer noch für dieselben Rechte kämpfen müsst wie wir. Ihr seid die vierte Generation. Wann werden wir endlich integriert sein?“ Loubna Méliane antwortet: „Man sagt uns, wir sollten uns integrieren. Aber man parkt uns am Rand, in Vorstädten, aus denen die Mittelschicht geflohen ist. Das kann gar nicht funktionieren.“
Im Publikum sind viele beruflich mit dem rauer werdenden Vorstadtklima konfrontiert. Die Englischlehrerin Merzhoura Naït Abdelaziz erlebt, dass Mädchen das Interesse am Unterricht verlieren, weil ihre Eltern sie systematisch mit 16 aus der Schule nehmen. Wenn sie manche dieser modern gekleideten Mädchen später auf der Straße trifft, sind sie verschleiert. Neuerdings kommt es sogar vor, dass Schüler der aus einer algerischen Familie stammenden Lehrerin die Frage stellen, ob sie sich an die Glaubensregeln für den Fastenmonat Ramadan hält. „Das ist reine Privatsache“, sagt Naït Abdelaziz, „das geht niemanden außer mir etwas an.“
Die Besinnung auf die alten Werte und die neue Intoleranz begannen in den 90er-Jahren. Seit in Algerien und anderswo in Nordafrika die Fundamentalisten stärker wurden, gibt es Familien, die verändert aus dem Sommerurlaub im Land ihrer Vorfahren zurückkommen. Erwachsene Frauen tragen plötzlich Kopftuch und sperren ihre in Freiheit aufgewachsenen Töchter ein. Selbst ältere Frauen wie Djouhra Benaoudia geraten in die Defensive. Die 61 Jahre alte Algerierin, die nie ein Kopftuch getragen hat, besteht auf ihrem Recht, selbst zu entscheiden. Trotzig sagt sie: „Ich habe keine Angst – ich habe schon im Unabhängigkeitskrieg die Folter kennen gelernt“. Fatima Salhi-Renard, Sozialarbeiterin und Verantwortliche von „SOS-Racisme“ in Charleville-Mézières, macht auf dem Weg der Vorstädte in die Intoleranz drei Stationen aus: „Die Religion, der letzte Irakkrieg und der Konflikt zwischen Israel und Palästina“.
Junge Mädchen aus den 300 Meter entfernten Wohnblocks sind nicht zu der Debatte im Stadtteilzentrum gekommen. Viele haben das Plakat gesehen, auf dem die Worte „Ni pute, ni soumise“ in rosa Schrift quer über ein Schwarzweißfoto von elf jungen Frauen geschrieben sind. Es hing auch im Jugendzentrum. Aber angesprochen hat es die Mädchen nicht. Das Wort „pute“ hören sie oft. Es bezeichnet ein Mädchen, das „unanständig“ ist. Keine wie sie. „Unterwürfig“ fühlen sich die Mädchen auch nicht.
Die 14-jährige Hafida ist in Ronde Couture geboren. Im Sommer war sie ein paar Mal mit ihrer Familie in Marokko. Sonst war sie noch nirgends. „Gewalt gibt es hier nicht“, sagt sie über ihre Vorstadt. Ältere Mädchen nicken zustimmend. Über gleiche Rechte für Jungen und Mädchen und über die Forderung der Demonstranten, sich für einen Lebensstil entscheiden zu können, lachen die Mädchen. „Das ist keine nordafrikanische Tradition“, sagt die 17-jährige Wafa. Sie ist überzeugt, dass sie „viel mehr Freiheiten“ hat als ihre Mutter. Sagt, dass sie sich ihren Ehemann eines Tages selber suchen kann – „das ist heutzutage modern“ – und dass sie erst nach der Hochzeit ein Kopftuch tragen wird. Eine 13-Jährige drängelt sich vor. Sie berichtet von einer Nachbarin, die ihre Tochter einsperrt. Dafür bekommt sie einen Knuffer in die Seite und die Bemerkung: „So etwas gibt es bei uns nicht.“ Die Kleine ist hartnäckig. Sie hat von einer Frau gehört, die gegen ihren Willen verheiratet wurde. „Jetzt hat sie drei Kinder und ist geschieden“, sagt sie und weist mit dem Zeigefinger auf einen lang gezogenen Wohnblock, „da wohnt sie.“
Von der Tour durch die Vorstädte haben die halbwüchsigen Jungen, die nachmittags im Jugendtreff von Ronde Couture zum Billardspielen zusammenkommen, im Fernsehen erfahren. „Die sollen ruhig demonstrieren“, meint Abdoul, „das ändert eh nichts.“ Der 16-jährige Schüler gibt Yacine aus dem Nachbarwohnturm die Hand, tippt sich mit den Fingern der rechten Hand leicht gegen die linke Brust und erklärt, dass „die Religion“ ganz einfach bestimmte Dinge festlege. „Hier werden die Mädchen respektiert“, sagt der gleichaltrige Yacine, „jeder kennt jeden und wir passen auf unsere Schwestern auf.“
Die Familien der Jungen stammen aus Algerien, Tunesien und dem Senegal. Sie lachen, als Abdoul die Regeln einer „tournante“ erklärt. „Reihum“ – so werden Massenvergewaltigungen im Vorstadtjargon genannt: „Du ziehst ein Ticket und teilst dir mit anderen Typen eine Tussi. Wie beim Pingpong.“
Abdoul trinkt keinen Alkohol. Aber ab und zu geht er Tanzen. Mit Mädchen. Seinen Schwestern hat er das verboten. Und wenn eine seiner Schwestern doch in eine Disko geht? „Die schlage ich rollstuhlreif“, versichert Abdoul. Seine Kumpel finden das „normal“.
* Namen aller zitierten Minderjährigen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen