piwik no script img

„Unser ganzes Leben ist Krieg“

Cofur Shushe ist irakischer Kurde. Solange er denken kann, bestimmt Krieg das Leben seiner Familie. Dennoch ist er für den neuen Krieg. Nur so werde man Saddam los

„Seit ich sechs bin, habe ich Panzer und Tod gesehen“, sagt der 43-jährige Cofur Shushe. Zusammen mit seiner Frau Keustan und den drei Kindern lebt der irakische Kurde in der Naunynstraße.

Der jüngste Sohn, Rauo, ist rothaarig wie die Mutter. Er spürt deren Traurigkeit. „Wenn man hier ‚Krieg‘ sagt, ist es ein schweres Wort. Bei uns ist ‚Krieg‘ ein normales Wort“, sagt der Mann. Die Frau sagt: Meine Mutter, meine Schwester, meine Brüder leben in Kirkuk. Ich habe Familie in Bagdad. „Wo sollen sie hin?“ Der Fernseher läuft in der Wohnung. Immer wieder Saddam Hussein. „Freiheit für uns“, sage er, übersetzt Shushe. Es ist nicht die Freiheit, die der meint. „Wirklich, wir haben Angst, wir haben große Schmerzen, aber ohne Krieg bleibt Saddam. Dieser Krieg ist wichtig. Der letzte. Dann ist Freiheit.“

Shushes Frau liebt Blumen. Rund um die Fenster stehen Grünlilie, Dieffenbachie, Alpenveilchen. Aber die grellen Farben des Bildschirms überstrahlen sie. „Zwei Tage haben wir nicht gekocht“, sagt der Maurer. „Wir können nicht essen.“ Die Frau wiegt sich auf dem Sofa hin und her. Beide sind müde. Die ganze Nacht saßen sie vor dem Fernseher. Mal der irakische Sender, dann al-Dschasira, dann deutsche Programme.

„Mein ganzes Leben ist Krieg. Ich träume Krieg. Jetzt noch ein Krieg. Und dann ist fertig“, sagt Shushe. Er wird es noch oft wiederholen an diesem Morgen des 20. März. Alle Kurden im Irak mit denen er in Berlin spreche, meinen, dass der Krieg notwendig sei. Dass dabei Menschen sterben? „Bei Saddam sterben auch jedes Jahr 200.000 Leute.“ Shushe versteht nicht, dass Deutschland und Frankreich gegen den Krieg sind. „Kriegen sie Geld? Kriegen sie Öl?“

Shushe war fast elf Jahre Soldat in der irakischen Armee. Den Krieg mit dem Iran, den mit Kuwait hat er mitgemacht. „Man kann nicht ‚Nein‘ sagen im Irak. Ich habe vier Brüder. Auch sie waren Soldat. Wir haben schreckliche Tage gesehen.“

Kirkuk, seine Stadt im kurdischen Teil des Irak, ist auf Öl gebaut. Als Saddam Hussein nach dem Golfkrieg gegen die Kurden vor ging, flüchteten Cofur Shushe und befreundete Familien, darunter die seiner Frau, in einem Treck in den Iran. Von dort zurückgeschickt, lebten sie im Grenzgebiet bis Saddam Hussein anbot, dass sie nach Kirkuk zurückkönnten. „Wo sollten wir hin?“

In der Zwischenzeit war ihr Haus zerstört, ihr Grundbesitz enteignet, ihre Habe geplündert. 1991 war das. In den nächsten vier Jahren wird Shushe zwei Mal ins Gefängnis gesteckt. Das erste Mal kann ihn seine Frau mit dem Hochzeitsgold auslösen. Nach dem zweiten Mal flüchtet er in die Türkei. „Mein ältesteter Sohn ist geistig behindert“, erzählt er. „Nicht wegen Gift, sondern weil das Leben giftig ist.“

Ob Bush den Krieg macht, weil er Zugriff auf das Öl will? „Soll er es haben“, sagen Shushe und seine Frau unisono und werfen es seinem Konterfei im Fernseher mit ihren leeren Händen in einer Geste vor die Füße. „Was will ich mit Öl? Ich möchte leben!“ WALTRAUD SCHWAB

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen