: „Das ist der letzte Tag für die Angst“
Eine Woche Krieg. Aus dem Wohnzimmer der irakisch-kurdischen Familie Shushe ist die Lebensfreude verschwunden. Die Nerven liegen blank. Die Eltern von drei Jungen können nicht essen, nicht schlafen. Der Fernseher läuft rund um die Uhr. Informationen über ihre Angehörigen in Kirkuk haben sie nicht
von WALTRAUD SCHWAB
„Dieser Krieg ist wichtig. Der letzte. Dann ist Freiheit“, hat Cofur Shushe, mit Frau und drei Kindern in Berlin lebender Kurde aus dem Irak, am Tag X gesagt. Es ist mehr Hoffnung als Freiheit. Der Maurer aus Kirkuk, dessen Biografie ihn als Soldaten, Flüchtling, Gefangenen, Asylbewerber ausweist, hat Angst um seine Angehörigen, die in der auf Öl gebauten Stadt leben.
Nicht schlafen, kaum etwas essen können die Shushes. Seit Tagen geht das so. Gestern ist Kuestan, die 31-jährige Frau, um Mitternacht ins Bett gegangen. Eine Viertelstunde später schreckt sie auf. Ein Albtraum. „Sie war im Krieg“, deutet ihr Mann an. „Aber bei uns darf man drei Tage nicht über schlechte Träume sprechen, sonst werden sie wahr.“ Die Frau schaut zu Boden.
Die Shushes wissen, dass sie schlafen müssten, aber sie können nicht. Auf 90 Quadratmetern herrscht Ausnahmezustand. „Jede Minute kommen neue Nachrichten. Jetzt gibt es schon 325 Tote und 3.500 Verletzte. Bereits 14 Mal wurde Kirkuk bombardiert“, zählt Shushe auf. Die Verwandten bitten, nicht angerufen zu werden. Sie bekämen Probleme. „Die Leute in Kirkuk sollen keine Informationen bekommen von außerhalb“, erläutert der 43-Jährige und zappt sich durch die Fernsehkanäle: Al-Arabia, al-Dschasira, kuwaitische Sender, kurdische, irakische und deutsche Programme.
„Wir können nicht ruhig bleiben. Bagdad ist überall im Fernsehen. Nicht so Kirkuk.“ Die Nerven liegen blank. Das lähmt die Erwachsenen. Die Kinder bekommen es zu spüren. „Sie sind auch unglücklich. Wir haben keine Lust, mit ihnen zu spielen. Die Kinder bräuchten in dieser Zeit ein großes Herz. Unser Herz ist voll mit anderen Dingen“, sagt der Vater, der seinen Zweijährigen im Arm wiegt, damit er still bleibt. Die anderen beiden sind in der Schule und im Kindergarten. Die Shushes glauben, dass der Krieg länger dauern wird, weil das irakische Volk nicht sprechen kann. Sprechen – das heißt „zeigen, was es wirklich denkt“. Im Fernsehen soll ein Mann erzählt haben, dass Saddams Soldaten in seine Wohnung gekommen seien, das Fenster zertrümmert hätten und seither mit der Waffe im Anschlag dort säßen. „Über 2.000 Leute sind in Kirkuk festgenommen worden. Wie sollen die Leute sprechen können?“
Shushe ist Linkshänder. „Bei uns sagt man, das bringt Glück.“ Er wartet noch darauf. „Wir haben keine Chance gesehen. Das irakische Volk hat keine Chance gesehen. Alles ist kaputt.“ An der Wohnungstür klingelt es. Ein Mann bettelt um Geld für seine Familie im Kosovo. Ein, zwei Mal die Woche käme das vor. „Er will Geld“, Shushe streckt seine leeren Hände Saddam Hussein im Fernseher entgegen. Die absurde Situation macht ihn selbst sprachlos.
Kurdisch, Arabisch, Türkisch, Persisch und Deutsch spricht Shushe. Immer wieder ringt er um Worte, um das Unrecht, das den Kurden geschieht, zu benennen. Die Stadt Kirkuk hieß früher Tamim. „Alles wurde Arabisch gemacht.“ Der Bezirk, aus dem seine Frau kommt, heißt jetzt Kibbuz, früher war er nach Rahim Awa, einem Kurden, benannt. „Unter uns sagen wir, wir sind aus Rahim Awa. Draußen sagen wir, wir sind aus Kibbuz.“
Auch nach einer Woche glaubt Shushe, dass der Krieg eine Lösung ist. Obwohl er weiß, dass die Amerikaner eigene Interessen verfolgen. Im Fernsehen habe er erfahren, dass „Saddam 50 Prozent unseres Öls Amman geschenkt hat. Kein Problem, die 50 Prozent statt an Amman später an Amerika zu geben“, sagt er. „Wir leben ohne Öl besser als mit.“ Alles sei besser als Saddam. „Das irakische Volk will eine gute Demokratie. Das irakische Volk ist gebildet.“ Shushe ist beides: Kurde und Iraker. Die Freiheit wünscht er allen, bevor er wieder in Ratlosigkeit fällt. „Was sollen wir tun? Es gibt kein anderes kurdisches Land. Nur dort. Wir sind zwischen Iran, Irak, Syrien. Aber große Angst haben wir vor der Türkei.“
Im Fernsehen wird für Minuten ein Panorama von Bagdad gezeigt. Sirenen sind zu hören. Rauo, der Zweijährige, sieht das Bild und läuft sofort zischend durch das Wohnzimmer. Mit seiner Hand zeichnet er immer wieder den Bogen einer fallenden Bombe nach. „Keine Lebensfreude“, sagt Shushe. Aber Angst will er auch keine mehr haben. Polizisten jagen ihm und seiner Frau bis heute Furcht ein. Auch hier in Berlin. Er versucht, diese zu überwinden. Sie wechselt die Richtung, wenn sie einen sieht. „Ich habe Leute im Fernsehen gesehen. Sie haben gesagt, was sie denken. Wie lang soll ich noch Angst haben? Vierzig Jahre habe ich sie schon. Ich habe gedacht, das ist der letzte Tag für die Angst. Ich spreche.“
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