: Am Anfang war das Schaf
Das Sturatal im Piemont gehört zu den vergessenen Tälern auf der italienischen Seite der Seealpen. Erst die Wiederentdeckung des Sambucano-Lamms hat den Bewohnern eine Perspektive eröffnet
Genuss gehört zum Piemont wie Ferrari und Fiat: Weiße Trüffel aus Alba, der schwarze Venere-Reis, das piemontesische Rind, das sambucanische Lamm, das weiße Saluzzo-Huhn, Maronen aus Cuneo – das sind nur einige der bekanntesten regionalen Spezialitäten. Es ist nur folgerichtig, dass die Slow-Food-Bewegung hier ihren Anfang nahm, die das Recht auf Genuss mit der Verantwortung für die Herkunft der Speisen verbindet. Siehe dazu: www.slowfood.com; www.cu neoholiday.com; www.torinopiu piemonte.com Einem ähnlich nachhaltigen Ansatz wie dem der regionalen Küche folgt die Idee des Ecomuseums, das die Geschichte, den Alltag und die Umwelt der Menschen in der jeweiligen Region nachvollziehbar machen will. Das Ecomuseo della Pastorizia, also das „Ökomuseum der Schafzucht“, in Pontebernardo ist ein lebendiges Projekt, an dem viele der Talbewohner mitarbeiten. www.vallestura.net
VON BEATE WILLMS
Am besten schmeckt das Agnello Sambucano, das Lamm aus Sambuca, aus dem Ofen. Für acht Personen braucht man 2 Kilogramm Fleisch, zwei Stangen Sellerie, zwei Zwiebeln, 150 Gramm Butter, Thymian und einen halben Liter Weißwein. Das Lamm mit Öl und Butter anbraten, dann mit dem klein geschnittenen Gemüse und den Kräutern in eine Ofenform geben, mit dem Wein begießen und bei höchstens 180 Grad mindestens eine Stunde garen lassen. Dazu geröstetes Brot und grüne Bohnen oder wilden Spinat – man könnte sich glatt reinlegen. Kein Wunder, dass das Agnello Sambucano von Anfang an zur Slow-Food-Küche dazugehörte, die praktisch von um die Ecke stammt: Carlo Petrini gründete die Genussbewegung 1986 in Bra, einem kleinen Städtchen in der Provinz Cuneo im Piemont, in der auch das Valle Stura mit dem Dorf Sambuca liegt.
Allein wegen der wunderbar einfachen Rezepte muss man das sambucanische Schaf lieben. Aber für das Sturatal ist es viel mehr als ein leckeres Gericht. „Mit dem Agnello fing alles an“, sagt Maria Elena Rosso, die im Ecomuseum in Pontebernardo arbeitet, und meint damit das neue Selbstbewusstsein der Menschen in der Region. „Ohne das Schaf wäre hier kaum noch jemand.“
Auch jetzt ist das Tal nicht gerade überbevölkert. Um die 5.000 Menschen leben hier auf rund 600 Quadratkilometern, ein Zehntel der ursprünglichen Bevölkerung, verteilt auf viele kleine Dörfer und Einzelhöfe. Die alten Schmuggler- und Saumpfade, über die man immer noch am besten in die Berge kommt, führen durch einsame Ansammlungen von ein- bis zweistöckigen Natursteinhäusern mit traditionellen Roggenstroh- oder praktischeren Blechdächern, von denen die meisten verlassen sind. Wenn man vorsichtig eine Tür aufdrückt, kann es vorkommen, dass man sich in einer kargen Stube wiederfindet, in der noch ein Stück Seife und ein Rasierpinsel auf dem Tisch liegen oder ein zerschlissenes Hemd über dem Stuhl hängt. Aber die einzigen noch lebenden Bewohner haben mehr als zwei Beine, die meisten mindestens sechs. Es ist, als hätten die Menschen ihre Heime fluchtartig verlassen. „Vielleicht lohnte es sich für sie nicht, alles mitzunehmen, vielleicht wollten sie nicht“, sagt Karen Kloss, die als freiberufliche Naturführerin in den Seealpen unterwegs ist.
Noch vor 150 Jahren schien das Tal alles zu haben, was für den damals langsam aufkommenden Tourismus alle Entwicklungsmöglichkeiten bot: eine abwechslungsreiche Hochgebirgslandschaft, eine heiße Quelle, ausgedehnte Alpweiden, hübsche Ortschaften und eine internationale Passstraße nach Frankreich. Dann allerdings geriet es durch den entstehenden italienischen Nationalstaat mit seiner zentralistischen Politik in eine Randlage, die Chancen blieben ungenutzt, die Menschen wanderten ab. In den Sechziger- und Siebzigerjahren, legte sich so mancher Piemonteser, der in der Stadt zu Geld gekommen war, ein Haus in den Bergen zu, in dem er ganze Monate verbrachte. Aber schnell wurde ihnen die Jagd und das Leben in der Natur langweilig. Sie bauten neue Häuser, näher am Meer, weiter im Süden.
Wirkmächtiger ist die Geschichte des sambucanischen Schafs, einer heimischen Rasse, die perfekt an die felsigen und abgelegenen Weiden in den Bergen angepasst ist. Die ausgewachsenen Tiere liefern sehr feine und dichte Wolle, die Lämmer besonders mageres Fleisch, dem die Fettfasern fehlen und das deswegen kaum Cholesterin enthält.
Trotzdem wäre es im letzten Jahrhundert beinahe von der Landkarte der Arten verschwunden. Weil vor allem die Jungtiere extrem klein sind und nur langsam an Gewicht zulegen, begannen die Schäfer irgendwann, ihre Tiere mit anderen schneller wachsenden Rassen zu kreuzen. Die Schafe wurden größer und dicker, aber auch fetter. Und sie verloren ihre Besonderheit.
Als die Internationale Alpenschutzkommission Cipra und die Comunita Montana Valle Stura auf das Treiben aufmerksam wurde, waren gerade mal 80 reinrassige Sambucana-Schafe übrig. Und auch das war nur zwei Schäferfamilien zu verdanken, die von den anderen bis dahin als besonders innovationsfeindlich kritisiert worden waren.
„Es war gar nicht so einfach, überhaupt jemanden für die Wiederzucht zu begeistern“, sagt Maria Rosso. Einer wie Adriano Fossati ist die Ausnahme. Der ehemalige Schäfer hatte sich schon in die Stadt verabschiedet, erkannte dann aber die Chancen des Projekts und reaktivierte seine alte Alp, die hier traditionell „Gias“ genannt wird, hoch über Sambuco. Inzwischen ist der Mann mit dem wilden Lockenkopf schon eine Art Berühmtheit. Der Bergsteiger Reinhold Messner hat ihn in seinem Bruchsteinhäuschen besucht, und in einer Dokumentation des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte zum harten Leben in den Alpentälern spielt er eine tragende Rolle. Verändert hat das sein Leben nicht. Von April bis September ist er oben in den Bergen mit den Schafen unterwegs, die „nur fressen müssen, was sie wirklich mögen“. Dann steigt er mit der Herde weiter herunter, bis es um Weihnachten herum zu kalt wird für die Tiere. Die richtig frostigen Tage verbringen sie dann im Stall.
Aber allein könnte Fossati die Rasse auch nicht retten. Um den Ehrgeiz anderer Schäfer zu wecken, mussten Preise ausgeschrieben und Wettbewerbe veranstaltet werden. Schließlich fanden sich eine Hand voll Männer, die das Konsortium L’Escauron gründeten und ein regelrechtes Zuchtprogramm organisierten. Sie bauten ein Widderzentrum auf, in dem die männlichen Tiere zusammen gehalten und streng nach Zuchtbuch an die Hirten in der Gegend verliehen werden. Mit Erfolg: Inzwischen hat sich der Bestand bei rund 5.000 Schafen stabilisiert.
60 bis 70 Schafzüchter mit ihren Familien leben von den Tieren, für viele ist es allerdings bislang nur ein Zuverdienst. Das Fleisch verkaufen sie über ihre Genossenschaft an die Slow-Food-Restaurants in der Gegend. Auch die Milch wird wieder zu Käse verarbeitet, obwohl sich der Aufwand wegen der geringen Ausbeute kaum lohnt – einen halben Liter Milch liefert ein Schaf am Tag. Immerhin reicht es, um eine erste kleine Käserei aufzubauen.
„Um das Schaf herum hat sich eine neue Ökonomie entwickelt, die gut zum Tal passt“, sagt Rosso. „Dadurch ist es zu einem wichtigen Markenzeichen geworden.“ Und zum Dreh- und Angelpunkt für kulturelle Identitätsprojekte. Denn von den Tierprodukten allein werden die Talbewohner nie leben können. Vielleicht aber von einem sanften Wandertourismus, der sich nun entwickeln kann, wo die Menschen wieder gemeinsam an Perspektiven arbeiten.
Auch da ist noch viel zu tun. Die Via Alpina läuft am oberen Talrand vorbei. Und auch die 1.000 Kilometer lange piemontesische Wanderroute Grande Traversata delle Alpi macht nur einen kurzen Abstecher ins Sturatal. Erst im Juli 2004 gründeten lokale Unternehmer die Vereinigung Lou Viage, was okzitanisch ist und so viel wie „die Reise“ bedeutet. Ihr Ziel ist ein „angepasster Wandertourismus“. „Wandern in den Bergen soll Genuss sein, nicht Leiden“, sagt Giovanni Mozzi, der seinen Lebensunterhalt als Naturführer und Ausbilder im Naturpark Seealpen verdient. In diesem Jahr ist ein Rundwanderweg fertig geworden, der die alten Militärstraßen und Schmugglerpfade einbezieht und das gesamte Valle Stura erschließt. Ihn komplett abzulaufen, dauert 18 bis 22 Tage. Alle zwölf Gemeinden haben an dem Projekt mitgewirkt und sind in die Strecke einbezogen. Im Frühjahr hat Mozzi die Wegmarkierungen angebracht.
Auf der vier Stunden langen Etappe zwischen Sambuco und Pontebernardo hängt neben seinen rot-gelben Streifen auch ein weißes Schild mit einem pummeligen schwarzen Schaf. „Das ist der Schafherdenpfad“, sagt Mozzi. „Er folgt den Spuren der Hirten und Bergbauern.“ Dabei kommt man über teilweise steile Wege auf brachliegende winzige Randacker, die heute nur noch als Mähwiesen genutzt werden.
Wenn man zur richtigen Zeit unterwegs ist, kann man hier schon mal auf einen Hirten mit seiner Schafherde stoßen. Wenn man Glück hat, im Frühjahr sogar die winzigen Lämmer sehen. Aber selbst wenn nicht, scheint das wollige Sambucana-Tier überall präsent zu sein. Für die einen als ein Schutzengel des Tals, für die anderen einfach als eine leckere regionale Spezialität.
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