piwik no script img

Die Lust am antiken Mythos

Wenn das Verbrechen zum Familiengeheimnis verkommt: In der Humboldt-Uni tagte am Wochenende die Konferenz „Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah“

Auch die Scham- und Schulddiskurse über die Schoah sind geschlechtlich kodiert. Diese These lag der Konferenz „Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah“ zugrunde, die am Wochende in der Humboldt-Universität stattfand. Organisiert hatte sie das Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der HU und das Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main. Aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive näherten sich in fünf Panels je bis zu fünf Forschende den Fragen nach Funktion und Strategie von Vergeschlechtlichung, von Entschuldungsmustern und Täter/innen-Bildern.

Dabei spielt die strategische Aneignung von Opferpositionen eine große Rolle. Vor dem Hintergrund der symbolischen Geschlechterordnung drückt sich dies vor allem im weiblichen Opferbild aus. Kathrin Hoffmann-Curtius zeigte die Feminisierung deutscher Denkmale nach 1945 auf, die mit der Etablierung eines Scham- als Opferdiskurses einherging. Der gebeugte Männerakt wird erst zur Verkörperung des über Deutschland „hereingebrochenen“ Unglücks. Anstelle der zurückgewiesenen Kollektivschuld tritt schließlich kollektive Trauer, stets weiblich visualisiert.

Mit den Prozessen um das Frauen-KZ Ravensbrück rücken erstmals NS-Täterinnen in die Öffentlichkeit. Anklage und Verteidigung argumentierten gleichermaßen mit Klischees wie weiblicher Exzessivität und Unterwerfung. Der Verweis auf die „Abnormalität“ weiblicher Täterschaft machte es der Nachkriegsgesellschaft einfach, sich zu distanzieren. Das Bild der verführerischen Nazi-Bestie taucht in der Erzählung heterosexueller Paar-Fantasien wieder auf, die um Schuld und Scham kreisen. Bernhard Schlinks Bestseller „Der Vorleser“ macht perfiderweise die Hilflosigkeit der Protagonistin als Grund für Täterschaft geltend.

Als beispielhafter Ausweichdiskurs sahen viele Referenten die Inzesterzählung, die fast ein eigenes Genre bilden, von Viscontis „Die Verdammten“ angefangen bis hin zur aktuellen Variante von Litells „Die Wohlgesinnten“ . Die durch den Verlust des Vaters gebrochene Genealogie schlägt sich in der Verfehlung des Platzes innerhalb der symbolischen Ordnung und in einem polymorph-perversen Triebleben nieder. Die Botschaft ist klar: Der Inzest als äußerste Verzerrung der sozialen Ordnung (nach Freud der Zivilisationsbruch schlechthin) erscheint als Geschichte der männlichen Identifizierung mit dem NS. „Die Wohlgesinnten“ wurden in Deutschland vehement abgelehnt. Über das Warum stritten sich die Teilnehmer ausgiebig. Ist ein Tabubruch durch Sexualisierung noch möglich? Die Literaturwissenschaftlerin Birgit Dahlke plädierte dafür, vor dem Hintergrund des Wissens um die Schuld „die pornografische Perspektive zielgerichtet als Technik maximaler Sichtbarmachung“ zu verstehen und die schockierende Wirkung positiv zu bewerten. Andererseits ist es auch bei Litell der Inzesttopos, der der Schoah den Status „des Familiengeheimnisses Europas“ zuweist. Die Lust am tragischen Mythos und sein Umkreisen, wodurch die NS-Täterschaft ins Fiktionale überführt wird, deutete das Publikum allerdings als Verweigerung, die Verantwortung zu übernehmen. Ist es so, kann man nur hoffen, dass das Thema Schuld nicht mit der Überwindung dieses Erzählmodus „erledigt“ ist, sondern neue Zugänge öffnet. Die Frage, wie die Zwangsgenealogie aufgebrochen werden könne, beantwortet derweil eine Teilnehmerin: „Indem man andere Sachen liest!“

Ein schwelender Zwist – wurzelnd im interdisziplinären Zugang zum Thema, der die Hinterfragung der Opfer/Täter-Kategorisierung voraussetzt – brach schließlich auf dem Abschlusspodium aus. Die psychoanalytische Fraktion bestand darauf, zwischen Verfolgern und Verfolgten zu scheiden. Die Überlebenden schließlich hätten die „Freiheit“ zur Scham oder Schuld nicht gehabt, sie war fester Bestandteil ihrer Lebenswelt.

SONJA VOGEL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen