: Mam, geben Sie Elitenfreiheit!
Wie entstehen Eliten? Gerade nicht, indem man die Tüchtigsten auswählt und in besonderen Lehrinstituten zusammenfasst. Insofern stellt, wie historische Beispiele zeigen, die gegenwärtige Debatte um die Elite-Unis gerade einen Grundfehler dar
VON JÜRGEN BUSCHE
Eliten sind ein demokratisches Urärgernis. Es sei unerträglich, dass einer besser sein wolle als die meisten, zitieren antike Quellen immer wieder die wütende Volksmenge. Ob der so angegriffene Einzelne auch mehr leiste als andere, interessiert die Öffentlichkeit nur in Augenblicken der Gefahr. Das alles ist längst durchschaut – und darum hat man es auch längst umdrehen können: Wer es versteht, sich auf die eine oder andere Weise vom Plebs abzuheben, dem wird auch leicht unterstellt, er leiste Besonderes. Der ungebrochene Ruf der durchschnittlichen Oxford- oder Harvard-Absolventen beruht auf diesem Trick. Aber die Welt besteht nicht nur aus Tricks. Es gibt Eliten. Man könnte Nationalgeschichten, aber auch Epochengeschichten schreiben unter dem Aspekt: Was leisteten die Eliten und wie prägten sie Traditionen oder Neuanfänge.
Das Ergebnis von dergleichen Arbeiten liefe wohl auf die Feststellung hinaus: Gesellschaften brauchen Eliten. Die Frage, die sich anschließt, lautet dann: Wie stellt man sie her? Es gibt brutale Methoden. Die Amerikaner, die nach der Gründung der Vereinigten Staaten mit Menschenrechtserklärung und manch anderem schönem Revolutionärem auch eine Elite haben wollten, machten das so: Die Regierung inszenierte einen Finanzskandal, der auf einen Schlag eine sehr wohlhabende Schicht schuf. Die, meinte man, werde schon ein Interesse an der Stabilität der allgemeinen Dinge haben und dafür ihre Mittel einsetzen. Man hat sich nicht geirrt.
Das alte Europa denkt beim Wort Elite seit langem zuerst an Leistungselite. Die ist am unumstrittensten im Sport. Dort ist Eliteförderung auch erwünscht – trotz aller Exzesse, die zumal die staatliche Förderung des Leistungssports in der Zeit des Kalten Krieges produziert hat. In der Bildungspolitik ist oft von Eliten die Rede, aber da provoziert der Gedanke an Eliteförderung zunächst zwei Arten von Widersprüchen, die einander widersprechen. Nach der einen bedeutet Bildung die Vermehrung von Lebenschancen, muss also allen in gleicher Weise zur Verfügung stehen. Dieser Widerspruch krankt daran, dass hier Begabung Nebensache wird.
Die andere Art von Widerspruch kreist um die Erfahrung, dass geförderte Eliten in der rauen Wirklichkeit des Lebens oft nicht das leisten, was man von ihnen erwartet. Dabei muss man keineswegs von der unscheinbaren Karriere reden, die der sprichwörtliche Klassenprimus seinen enttäuschten Lehrern präsentiert. Das preußische Offizierskorps am Vorabend des Ersten Weltkriegs empfand sich selbst zweifellos als Elite. Die Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland akzeptierte das und trug manches zur Selbsteinschätzung der jungen Leutnants bei. Tatsächlich entstand auf diese Weise ein recht mittelmäßiger Haufen. Diese Mittelmäßigkeit garantierte zwar ein Stück weit die Zuverlässigkeit der militärischen Planungen, was ihre Bewunderer entzückte und den Kommandierenden manchen beachtlichen Erfolg bescherte, aber Leistungselite entstand so nicht. Ja, sie wurde beargwöhnt. Von denen, die im Alter zwischen 20 und 40 Jahren im Ersten Weltkrieg Besonderes leisteten, gehörten die wenigsten zur vordem geförderten Elite – und kaum einer von ihnen wurde hernach in irgendeiner Weise gefördert.
Das war richtig und falsch zugleich. Falsch war es, elitäres Bewusstsein einer Berufsgruppe oder eines Standes gesellschaftlich abzusichern: denn dadurch wurde die individuelle Entwicklung gehemmt, die doch Voraussetzung für elitäre Leistung ist. Richtig war, dass Förderungsmaßnahmen nur dort sinnvoll sind, wo neben der Förderungsfähigkeit auch eine entsprechende Bedürftigkeit vorhanden ist. Von dorther kann man aber keine Eliten erwarten, sondern lediglich abrufbare Leistungen im vertrauten Anforderungsprofil, also zuverlässiges Mittelmaß, das niemanden in den Abgrund reißt – aber auch niemanden rettet, wenn es darauf ankommt.
Der Grundfehler bei vielen Gedanken zur Bildungselite als Leistungselite besteht darin, dass man sich Entscheidendes von der Separierung der Tüchtigsten erhofft. Wenn man den Tüchtigsten mehr abverlangen kann, weil man in entsprechender Schule oder an der Elite-Universität nicht auf Schwächere Rücksicht nehmen muss, dann leisten sie auch mehr, erledigen dies auch in kürzerer Zeit und bilden so die gewünschte Elite. So lässt sich die Grundidee solcher Beiträge zusammenfassen.
Dagegen ist einzuwenden, dass die letzte historisch fassbare Bildungselite, zumal in Deutschland, gerade nicht auf dem Wege der Separierung der Tüchtigsten oder Besten geschaffen wurde. Die Humboldt’sche Bildungspolitik setzte ein Ideal als für alle verbindlich an die Spitze ihrer Bestrebungen: es war das neuhumanistische mit der entschiedenen Bevorzugung der alten Sprachen und der Geisteswissenschaften. Das schuf den Humus, in dem innerhalb weniger Jahrzehnte Eliten gerade auch für die naturwissenschaftlichen Fächer emporwuchsen. Die Begabten fanden früher oder später nach Interesse oder Herausforderung ihren eigenen Weg. Entscheidend war, dass alle im gesellschaftlichen Konsens zunächst vom gleichen Geist des Lernens, des Sichselbstfindens, des Weiterfragens ausgegangen waren. Alle lasen in der Schule drei oder vier griechische Tragödien. Wer elitär mehr konnte und wollte, las acht oder neun, privat oder im Freundeskreis.
Auf die Verhältnisse noch in den 50er- oder 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts übertragen: Alle lasen auf dem Weg zum Abitur Goethes „Faust“ und Schillers „Räuber“. Wer sich zur Elite gehörig fühlte, las auch den „Wilhelm Meister“ oder alle Dramen von Schiller und Kleist. Und etliches mehr. Das ließe sich auf andere Schulfächer mühelos übertragen. Auf der Universität wurde das noch intensiviert. Wo es indes, wie es später manchenorts geschah, für gleichgültig erachtet wurde, ob man das Deutsch-Abitur mit „Faust“ oder Mickymaus bestritt, war der gesellschaftliche Konsens dahin, war den absurdesten Separierungen unbegrenzt Raum gegeben, gab es in diesem unbegrenzten Raum für auf sich selbst gestellte Hochbegabte kaum Herausforderungen zur Hinwendung zur Elite.
Mit Blick auf den gesellschaftlichen Konsens bei schulischen Leistungen sind auch die Ergebnisse der Pisa-Studie zu analysieren. Bayern und Baden-Württemberg haben keineswegs vom Potenzial her die besseren Lehrer und auch nicht die besseren Schüler. Aber dort, wo die Unionsparteien seit Jahrzehnten ununterbrochen regieren, gibt es noch relativ stark den Konsens von Eltern, Lehrern und Bildungsplanern darüber, was Schülern abzufordern sei und wie. Das schafft eine schulische Situation, in der alle mehr gefördert werden als anderswo und die Besten jederzeit die Chance haben, sich leistungsmäßig nach Begabung und Interesse vom Gros abzusetzen.
Solcher Konsens entsteht freilich erst allmählich und in langer Zeit. Wie er entsteht, dafür gibt es wohl keine Regel. Aber er kann rasch unterminiert werden und geht dann zugrunde. Schulen im Rheinland und in Westfalen galten bis Mitte der 60er-Jahre als anspruchsvoller als die bayerischen, ihre Absolventen durchschnittlich als leistungsstärker. Die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen in Düsseldorf hatten gute Gründe für eine andere Bildungspolitik als ihre christlich-demokratischen Vorgänger. Der SPD ging es darum, weite Teile des bevölkerungsstarken Ruhrgebiets zum ersten Mal überhaupt an höhere Bildung heranzuführen. Das war ein unverächtliches Ziel – und es ist in gewisser Weise erreicht worden. Der – notwendige? – Preis dafür scheint aber gewesen zu sein, dass seit geraumer Zeit die Schulen in Nordrhein-Westfalen deutlich schlechter sind als die in Bayern und dass es Schüler aus Essen oder Bochum heute schwer haben, an ein Gymnasium in Regensburg oder Augsburg zu wechseln.
Eliten werden nach dem Düsseldorfer Muster auch nicht dadurch gebildet, dass man Vorzugsschüler in besonderen Schulen zusammenfasst. Der Trend zur Verschulung des Unterrichts an den Universitäten reagiert auf das zuvor eingeübte Lernverhalten der Schüler, die das Besondere nicht mehr individuell suchen und sich erschließen, sondern die dafür Arbeitsgruppen und Leistungskurse angeboten bekommen, in denen sie erfolgsorientiert mit besonderen Leistungen ihre Abitur-Durchschnittsnote verbessern können.
Der Bildungskonsens im schulischen Bereich wird so aufgesplittert – aber nicht, um die hervorstechende Begabung des Einzelnen besonders zu fördern, sondern um es dem Einzelnen zu erlauben, sie institutionell besonders zu nützen. Das ist allerdings das Gegenteil von Elitenbildung.
Elitenbildung kann allein durch Gewährung von Freiheit geschehen. Freiheit kann dem Schüler nur gewährt werden – und kann er sich selbst nur nehmen –, wenn er sich der Bewährung im Üblichen ganz und gar sicher sein kann. Er wird, wenn er Eignung hat, zur Elite zu gehören, dabei auf sich selbst gestellt sein können und wollen. Die Erfahrungen, die er dabei macht, werden ihn auf der Universität noch einmal und neu antreiben. So entsteht Elite – und die Umgebung profitiert davon bei jedem Schritt.
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