: Verraten und verkauft
Auf Spurensuche in den sozialen Brennpunkten Jenfeld und Wilhelmsburg: Die CDU konnte in den ehemaligen SPD-Hochburgen ihr Ergebnis nahezu verdoppeln. Denn Ole ist „ein Hanseat“ und die SPD das größere Übel. Tiefe Enttäuschung über Politik „auf Schultern der kleinen Leute“
von SANDRA WILSDORF UND EVA WEIKERT
„Man braucht einen Bürgermeister, der in den Herzen der Leute verankert ist“, sagt Angelika Heinisch, „Ole ist so einer, der ist ein Hanseat.“ Wilhelmsburg am Tag nach der Wahl. Zwischen S-Bahn-Station und Bahnhofspassage stehen noch Wahlplakate. Die meisten zeigen Rechtspopulist Ronald Schill mit dem Slogan „Ich räume auf“, der hier 2001 fast 35 Prozent der Stimmen holte. Am Sonntag schaffte Schill hier mit 8,2 Prozent immerhin noch sein stadtweit bestes Ergebnis. Auch Arzthelferin Heinisch gab ihm ihre Stimme, „weil der die Kriminalität gesenkt hat“. Enttäuschung darüber, dass dem Ex-Senator der Sprung in die Bürgerschaft misslang, zeigt sie aber nicht. „Ich bin sehr zufrieden“, sagt die 47-Jährige. „Ole hat eine zweite Chance verdient.“
Heinisch wohnt seit 28 Jahren in dem Stadtteil südlich der Elbe, der wegen seines hohen Anteils an Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen als Brennpunkt gilt. In den 90er Jahren war Wilhelmsburg noch eine SPD-Hochburg, die CDU schaffte wie bei der Bürgerschaftswahl 2001 im Schnitt 20 Prozent. Doch seit diesem Sonntag ist alles anders, die CDU hat 43 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt – und „ich habe dazu beigetragen“, sagt Liane Muszynski nicht ohne Stolz. Die Hausfrau steht mit ihrer Freundin Ingrid Rathmann vor dem Einkaufszentrum Marktkauf am Berta-Kröger-Platz. Beide Frauen haben noch 2001 Schill gewählt, um Rot-Grün „für jahrelangen Filz abzustrafen“, wie Muszynski sagt. „Aber auch Schill hat seine Chance vertan.“
Auf die SPD sind die beiden Wilhelmsburgerinnen überhaupt nicht gut zu sprechen. Etwa mit dem Vorwurf, er sei ein fauler Bürgermeister, habe die SPD Ole von Beust „zuviel Schmutz vor die Füße geworfen“, so Muszynski. „Das ist nicht Oles Niveau.“ Zugleich, empört sich Freundin Rathmann, habe die SPD „die ganzen Ausländer hier rein geholt und uns kleine Leute verraten und verkauft“. Reformen wie die Praxisgebühr „würden allein von den kleinen Leuten geschultert“. Auch wenn die CDU eine Arbeitergeber-Partei sei, betont die Hausfrau, „ist es immer noch besser, Unternehmen zu stärken, als Schmarotzer, die nicht arbeiten wollen“.
Einen „überspitzten Sozialstaat“ sieht auch Joachim Hennig. „Mit der Gießkanne kippt die SPD die Wohltaten aus“, rügt der Rentner, der am Sonntag gar nicht gewählt hat. Hennig ist eigentlich ein Stammwähler der SPD, „wie früher die meisten in dieser Arbeitergegend“, sagt der 69-Jährige. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der „Überfremdung“ – fast 35 Prozent der Wilhelmsburger haben keinen deutschen Pass – möge er die Roten aber nicht mehr wählen. Zudem sei deren Spitzenkandidat Thomas Mirow „eine Null-Person und in der Öffentlichkeit ein Niemand“. Hennig meint: „Aber ein Bürgermeister muss auftreten können und Ole kann das.“
In Jenfeld ist von Ole-Enthusiasmus keine Spur. Der Bürgermeister ist hier einfach nur das kleinere Übel. In dem Stadtteil mit dem höchsten Anteil an Sozialhilfeempfängern Hamburgs haben vorgestern 49,2 Prozent die CDU gewählt, fast doppelt so viele wie noch vor zweieinhalb Jahren. Nicht aus Begeisterung, sondern aus Frust. Ein Rentner spricht von „tiefer Enttäuschung über die SPD“. Denn „die tun nichts mehr für uns kleinen Leute.“ Glaubt er, dass die CDU das besser macht? „Natürlich nicht.“ Nur aus „Trotz und Rache“ habe er die Christdemokraten gewählt. Selbst sein Freund, der neben ihm steht, hat als ehemaliger Gewerkschafter „aus Protest die CDU gewählt“.
Hier in Jenfeld, im Einkaufszentrum „Jen“ mit Minimal, Takko Fashion, Spielinsel und Chinarestaurant „Dschunke“ fühlen sich die Menschen von der Politik betrogen. „Ich hab‘ nicht gewählt, ist doch alles das Gleiche“ oder „die bedienen sich sowieso alle nur selbst“ sind gängige Meinungen.
Über SPD-Mann Mirow redet hier kaum jemand. Aber über Praxisgebühr, kleine Renten und Arbeitslosigkeit. „Wir haben CDU gewählt“, sagt ein Rentner für sich und seine Frau. „Die SPD ist schlecht für unsere Gesundheit, die hat alles so teuer gemacht.“ Aber die Gesundheitsreform war doch ein Gemeinschaftwerk von Regierung und Opposition? „Aber das ist ja erst viel später rausgekommen“, erklärt er. Und eine Frau hat Ole von Beust gewählt, weil „der sich endlich durchsetzt gegen das Dosenpfand und die Preiserhöhungen für Zigaretten.“ Und auch die Praxisgebühr wolle er schließlich zurücknehmen.
Auch über Ausländer wird hier viel gesprochen. „Multikulti, darüber reden doch nur Leute aus Blankenese und meinen damit ihren Nachbarn, den Arzt aus Afghanistan oder den Botschafter aus Ghana“, sagt ein Mann, der demnächst nach 25 Jahren aus Jenfeld wegzieht. „Hier ist kein Multikulti, wir haben kaum Kontakt mit den Ausländern, die bleiben untereinander.“ Dass SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder sich nicht kategorisch gegen einen Beitritt der Türkei zur EU ausgesprochen hat, das nehmen ihm viele hier übel. Dass Ole von Beust das ebenfalls nicht getan hat, ist offenbar nicht bekannt.
Schon länger haben die Menschen das Gefühl, von „ihrer“ SPD verraten worden zu sein: 2001 stimmten nur 32,7 Prozent für die Sozialdemokraten, jetzt waren es gerade mal noch 26,9 Prozent. Auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat haben bei der vorigen Wahl 23,9 Prozent Hoffnungen auf Ronald Schill gesetzt, diesmal nur 6 Prozent. Mit der SPD sind sie fertig. „Die hat alles zunichte gemacht“, sagt eine Frau, enttäuscht über die Partei, „die doch eigentlich für uns Arbeiter zuständig ist.“ Aber nun die „Kleinen, Armen und Rentner alles ausbaden lässt“. Eine neue Heimat sehen indes die meisten in der CDU nicht. Eher einen zufälligen Ort. Eine Verkäuferin sagt: „Viel verstehen wir Frauen ja nicht von Politik, aber die SPD musste was auf den Deckel kriegen.“
Furcht einflößend ist die SPD offenbar für manchen auch durch ihre Nähe zu den Grünen. „Die sind mir ein Dorn im Auge, die wollen so gefährliche Tiere wie Bären und Wölfe wieder freilassen.“ Da müsse man ja Angst um seine Kinder haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen