: Überleben im Kampf der Formate
Die zyklischen Krisen des Musikkapitalismus: Eine Geschichte der musikalischen Aufzeichnungsmedien
Dieses kleine Buch sollten sich die Manager der internationalen Musikindustrie in einer stillen Stunde zu Gemüte führen. Gerade die Verantwortlichen in Deutschland haben jetzt ja vielleicht einen Moment Zeit dafür. In diesen Tagen haben sie Anzeige gegen unbekannt erstattet, und zwar gegen knapp hundert anonyme User von Internet-Musiktauschbörsen. Nun müssen sie warten, ob die Internetprovider der Beschuldigten mit den Klarnamen der Filesharer herausrücken.
Bis man die ersten ehemaligen Kunden vor den Kadi zerren kann, dauert es also wohl noch etwas. Zeit, einmal einen Blick in das vorerst allerdings erst auf Englisch zu erhaltende Buch „Playback“ des amerikanischen Journalisten Mark Coleman zu werfen. Das gerade in den USA erschienene Werk erzählt die Geschichte der Aufzeichnungsmedien für Klang: von den ersten Walzen, mit denen Thomas Edison das Kinderlied „Mary had a little lamb“ aufzeichnete, über Grammofon und Stereo-LP bis zur CD und dem MP3-Format unserer Tage.
Das mag zunächst wie ein Thema für Nerds und Technikmuseen klingen. Unter dem Eindruck schwindender Profite der großen Medienmultis und dem gleichzeitigen Aufblühen von Online-Musiktauschbörsen ist es aber plötzlich erstaunlich aktuell. Denn letztlich ist dieser Konflikt ein Krieg der Formate: Festkörpermedien wie die CD gegen körperlose, schwer zu kontrollierende digitale Daten bei den MP3s.
Solche Konflikte zwischen verschiedenen Mediengenerationen erschüttern die Musikindustrie in regelmäßigen Abständen: Immer dann, wenn der technische Fortschritt ein neues Aufzeichnungsmedium hervorbringt, gerät der Musikkapitalismus in eine seiner zyklischen Krisen. Colemans Buch zeigt: Jedes Mal, wenn ein neues Aufzeichnungsmedium eingeführt wird, gibt es Gewinner und Verlierer. Als der Tonfilm aufkam, machte das tausende von Kinomusikern arbeitslos. Die Verbreitung des Radios in den 20er-Jahren zusammen mit der großen Depression ließ die Umsätze der Plattenfirmen so dramatisch in den Keller gehen, dass die 19 Prozent Umsatzeinbußen der deutschen Musikindustrie im vergangenen Jahr dagegen wie ein Sonntagsspaziergang wirken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem die Indie-Labels, die wieder Schwung in die Musiklandschaft brachten und neue Käuferkreise ansprachen. Elvis Presley wurde nicht von einem der damaligen „Multis“ wie RCA oder Victor entdeckt, sondern von der winzigen, unabhängigen Plattenfirma Sun Records. Obwohl seine Musik umsonst im Radio zu hören war, verkauften sich seine Platten millionenmal. Innovative Musik war die eine Strategie, um die Nachfrage nach Musik anzukurbeln, technische Innovation die andere: Die High-Fidelity-Langspielplatten der 50er-Jahre boten eine bessere Klangqualität als die Mittelwellesender der Fifties. Auch die Einführung der bespielbaren Kassette hat die Musikindustrie überlebt.
Colemans Fazit: Die Medien, die den Verbrauchern die größte Wahlfreiheit in Kombination mit leichter Benutzung bieten, überleben im Kampf der Formate. Eine historische Lehre, die die Musikindustrie in den letzten Jahren ignoriert hat, als sie das Medium Internet den Piraten überließ. TILMAN BAUMGÄRTEL
Mark Coleman: „Playback. From the Victrola to MP3. 100 Years of Music, Machines and Money“. Da Capo Press, New York 2004. 240 Seiten, 25 Dollar
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