: Christoph Schurian über Schule & Dreiländersprache
Streit um Neu-Niederdeutsch
Ein Prager Erlass verärgert die Regionen im Westen. Die EU-Kulturabteilung will ab dem kommenden Schuljahr flächendeckend und verbindlich das Fach Neu-Niederdeutsch in den Lehrplan aufnehmen. Als dritte Sprache soll die euregionale Mischsprache ab der ersten Klasse täglich eine Stunde gelehrt werden.
Für die Schulträger in Kommunen und den Regionalkonzernverband (RG) ein „unerhörter“ Vorgang. „Wir lassen uns nicht von den Prager Spitzenbeamten vorschreiben, was unsere Kinder lernen sollen!“, teilte der RG mit. Die Stadtchefs der vier kinderreichsten Boomsiedlungen in West, der B4 (Velbert, Rosendahl, Mettmann, Gütersloh), erwägen eine Verfassungsbeschwerde: „Durch Neu-Niederdeutsch droht eine Verlängerung der Schulzeit bis zur Hochschulreife auf neun Jahre – das ist nicht seriös gerechnet“, sagt Mettmanns Stadtchef Hans-Peter Kerkeling als B4-Vertreter der taz. Er wolle nicht einsehen, warum Neu-Niederdeutsch jetzt als Schulsprache anerkannt werde, andere Mischsprachen wie das Türtsch nicht. Dabei sei das gerade in der Metropolbevölkerung von RG und Köln sehr verbreitet: „Neu-Niederdeutsch ist die Spreche der Grenzregion, was sollen die Kinder tief im West damit?“, so Kerkeling.
Das neue Fach fördere die Integration zwischen den Niederlanden, Belgien und dem West, heißt es in Prag: „Wir müssen etwas tun, gerade der Westen kann nicht auf die Wirtschaftskraft und den Elan der Niederlande verzichten.“ Eine gemeinsame Sprache bewirke Enormes für den Binnenmarkt. Andere Mischsprachen seien allenfalls kulturell von Interesse. Die Mischsprachen wurden erst vor etwa dreißig Jahren entdeckt und wissenschaftlich erforscht. Türtsch war die erste, die eine eigene Grammatik bekam.
Trotz des Schulstreits sind sich Kommunen, RG und Prag einig, dass Mischsprachenförderung vor allem Jugendförderung ist. Die schlechten Noten für Lesefähigkeit und Sprachbildung Anfang des Jahrtausends leiteteten das Umdenken ein. Maßgeblichen Anteil an diesem Paradigmenwechsel hat der Schriftsteller Feridun Zaimoglu. Seine These: Den durch Migration und Vielsprachigkeit geprägten Jugendlichen der damaligen Zeit fehlte es nicht an Sprache. Sie entwickelten nur ständig neue. Zaimoglu wurde erster Lehrstuhlinhaber für Türtsch an der RG-Universität Herne.
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