: Solarlampen fürs Himalajatal
AUS KUMAON BERNARD IMHALSY
Digoli beweist, dass der Wahlkampf in Indien heute auch in den hintersten Dörfern ausgefochten wird. Das Dorf liegt an einem Steilhang am Ende des Kamshyar-Tals, eines der vielen hundert Täler im Hügelgebiet des indischen Himalaja. Um nach Digoli zu gelangen, muss man eine dreistündige Wanderung von der nächsten Straßenverbindung auf sich nehmen. Dennoch sind die Mauern der weiß getünchten Häuser mit Plakaten gepflastert, und an den Bäumen hängen Fähnchen der BJP und der Kongresspartei, den beiden einzigen ernsthaften Kontrahenten im Bundesstaat Uttaranchal.
Und doch interessiert sich hier eigentlich niemand für Politik. Die Dorfbewohner bleiben einsilbig, wenn man sie nach ihren Parteipräferenzen fragt. Sie sind viel zu sehr mit dem Einbringen der Winterernte beschäftigt, um sich mit Politikern abzugeben, die sie ohnehin nicht zu Gesicht bekommen. Bereits morgens um sechs Uhr – wenn sich die Kinder auf den einstündigen Schulweg ins Tal hinunter machen – stehen die Frauen auf den terrassierten Feldern, schneiden und binden Getreidegarben.
Und wenn sie an Politiker denken, dann kommen ihnen zuerst gebrochene Wahlversprechen in den Sinn. Noch immer besteht die vor zehn Jahren versprochene Straße lediglich aus einem schmalen Fußweg, der zwischen Getreidefeldern und durch das in dieser Jahreszeit ausgetrocknete Bachbett führt. Und außerdem gab es da auch noch diese Angelegenheit mit den Laternen.
In Kumaon, der östlichen Hälfte des Bundesstaates, ist nur ein kleiner Teil der Dörfer durch Straßen erschlossen. Die Chance, dass plötzlich ein Kandidat am Horizont auftaucht, ist denkbar gering. Statt wertvolle Wahlkampfzeit auf beschwerlichen Fußmärschen zu verlieren, konzentrieren sich die beiden Kandidaten Raman Arya und Bachi Singh Rawat auf die wenigen Kleinstädte wie Bageshwar und Pithoragarh, wo am meisten Stimmen zu holen sind. Auf den wenigen Straßen holpern von Zeit zu Zeit Jeeps mit Lautsprechern vorbei, die zwischen Bollywoodsongs Appelle der Kandidaten in die Täler schmettern.
Doch selbst von diesen Lautsprechern bleibt man in Dörfern wie Digoli verschont. Hier ist der Wahlkampf vor allem ein Kampf der Wahlagenten. Der Entwicklungshelfer Suresh erzählt: „Die Kandidaten haben für jedes Tal einen Helfer engagiert, der gegen Bezahlung das Propagandamaterial verteilt und die besten Wandflächen überklebt.“ In Digoli scheint das niemanden zu stören, denn mit der großen Politik können die Bauern hier ohnehin wenig anfangen. Der 30-jährige Rajendra Joshi meint, für ihn sei es einerlei, wer in Delhi oder Dehra Dun, der Hauptstadt von Uttaranchal, am Ruder ist. Das heißt aber nicht, dass man nicht wählen ginge. Doch der Urnengang hat eben nur wenig mit der Ideologie der Partei oder der Wahl zwischen Sonia Gandhi und Atal Behari Vajpayee zu tun. Den Wählern von Digoli geht es darum, dass keine Partei zu stark wird. „Bei den Wahlen für Delhi wählen wir gegen die Partei, die in Uttaranchal an der Regierung ist, und bei den Provinzwahlen machen wir es genau umgekehrt“, erklärt der Bauer Joshi.
An diesem Nachmittag sitzt Joshi zusammen mit den männlichen Mitgliedern seiner Großfamilie im Vorhof und trinkt Tee. Können Politiker nicht ihr Leben verbessern? Sie schauen einer älteren Frau dabei zu, wie sie Ähren in den Wind wirft und die Spreu wegblasen lässt, und schweigen vielsagend. Sind Wahlen nicht der drohende Finger für die Politiker? Sie schauen sich kurz an, dann lachen sie. Die Höflichkeit verbietet einen deutlicheren Kommentar.
Aber die vielen kleinen Solarpaneele, die auf fast jedem Hof irgendwo zwischen Misthaufen und Strohbergen in die Höhe ragen – sind die nicht der Politik zu verdanken? Die Männer schütteln die Köpfe. Die Hilfsorganisation Avani – „Erde“ – hat sie nach Digoli gebracht.
In den meisten Häusern sorgen die Solarzellen heute für einige Stunden Licht und haben das Leben ihrer Bewohner deutlich verändert. Früher hatte sich praktisch kein Bauer auch nur eine Kerosinlampe leisten können, und auch elektrische Stromversorgung ist unbekannt. Doch seit die Paneele auf den Dächern montiert sind, können die Familienmitglieder am Abend noch Arbeiten verrichten.
Als die Avani-Gründer Rashmi und Rajnish Jain vor sechs Jahren in diese Region kamen, erkannten sie sofort, dass Elektrizität in diesen abgelegenen Tälern noch für Jahrzehnte ein Traum bleiben würde. Mithilfe eines von der EU finanzierten Pilotversuchs begann sie in einem Nachbartal mit der Installation der kleinen Paneele. Die Talbewohner haben die Organisation inzwischen in „Sor Urdscha“ – Sonnenenergie – umgetauft.
Die Bauern von Digoli waren allerdings selbst für subventionierte Solarpaneele zu arm. Zufällig erfuhr Rashmi, dass die Dorfbewohner früher Hanfseile geflochten hatten, und so kam sie auf die Idee, die Frauen zum Weben von Stoffen anzuleiten, auf dass sich die Familien so ein wenig Geld hinzuverdienen können. Die Produkte – Schals, Jacken, Bettüberwürfe – fanden auf den Märkten indischer Großstädten rasch interessierte Kunden. Heute wird in über fünfzig Dörfern dieser abgelegenen Region wieder gewoben – meist in den Abendstunden unter dem Schein einer Lampe.
Digoli, vor einigen Jahren das abgelegenste und ärmste Dorf der umliegenden Täler, ist so etwas wie das Zentrum dieser neuen Bewegung geworden. Über einem der einfachen unverputzten Häuser am Dorfeingang verkündet ein Plakat stolz „AVANI – Sales&Service Centre“. Hier werden Weberinnen ausgebildet, wird Garn verteilt und werden aus anderen Dörfern die gewobenen Stoffe eingesammelt. Hier werden auch Jungen und Mädchen ausgebildet, damit sie im ganzen Tal die Solarpaneele warten können. Der Unterricht findet weitgehend im Freien statt. Das „Service-Zentrum“ ist so winzig, dass die Webstühle auf dem Nachbargrundstück stehen, wo sonst Weizen und Reis angepflanzt werden. Die eingespannten Stoffe und Garne werden nur durch Plastikbahnen und ein Wellblech vor Regen und Sonne geschützt.
Ein pensionierter Korporal der indischen Armee findet, Avani sei für das Tal heute wichtiger als die Politiker, die von den Wänden lächeln. Die Leute der kleinen NGO sind nicht so vermessen, sich an die Stelle des Staats setzen zu wollen. Statt wie so manche Hilfsorganisation hier die Rolle der Opposition zu übernehmen, versucht Avani lieber, die Macht der Behörden für ihre Zwecke auszunutzen.
Und diese wiederum haben inzwischen akzeptiert, dass NGOs eine nützliche Rolle spielen können. So bildet Avani im Auftrag des Staats in dreimonatigen Kursen Solartechniker aus, die heute selbstständig Solarlaternen zusammensetzen können – diese Solarlaternen, die in Digoli vor einiger Zeit für diesen Ärger sorgten.
Die Sache war nämlich so: Die Anschaffung der Laternen wird staatlich unterstützt. Die Entwicklungshelfer achten penibel darauf, dass solche Transaktionen transparent vonstatten gehen. Den Bauern wird schriftlich vorgerechnet, wie hoch der Subventionsanteil ist. Jain vermutet, dass dies der Grund ist, warum der Abgeordnete des Wahlkreises mit der kleinen NGO so gar nichts mehr zu tun haben will.
Vor den vorangegangenen Wahlen ist der Mann hier das letzte Mal gesehen worden. Auf einer Wahlkampfveranstaltung hatte er großzügig Rabattgutscheine für Solarlaternen verteilt und die 50-prozentige Vergünstigung als seine persönliche Leistung hervorgehoben. Als Avani daraufhin ihre Laternen mit dem regulären Preisabschlag von sechzig Prozent anbot, merkten die Bauern, dass sie betrogen worden waren – der Politiker hatte zehn Prozent in seine eigene Tasche gesteckt.
Digoli liegt drei Stunden Fußmarsch von der nächsten Straße entfernt. Aber das ist wohl nicht der einzige Grund, warum sich im Wahlkampf kein Politiker hierher verirrt.
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