: „Das Unmögliche wird bestraft“
Ein Gespräch mit dem peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa über seinen neuen Roman „Das Paradies ist anderswo“, die sozialistische Frauenrechtlerin Flora Tristan, über neoliberale Irrwege in Lateinamerika und die Folterungen im Irak
VON GERHARD DILGER
taz: Herr Vargas Llosa, in Ihrem neuen Roman verschränken Sie die Lebensgeschichten der sozialistischen Frauenrechtlerin Flora Tristan mit der ihres Enkels Paul Gauguin. Ist „Das Paradies ist anderswo“ ein historischer Roman?
Mario Vargas Llosa: Ich habe die grundlegenden Fakten im Leben der beiden Figuren respektiert. Aber es ist eben ein Roman. Ich habe mir viele Freiheiten genommen, alle Lücken in den Lebensgeschichten mit Erfindungen und Fantasien ausgeschmückt, Figuren dazuerfunden und historische Figuren mit großer Freiheit behandelt.
Wann hatten Sie die Idee für diesen Roman?
Als ich als Student erstmals Flora Tristans Memoiren „Reise nach Peru“ gelesen habe. Das war in den Fünfzigerjahren. Mich beeindruckten ihre Persönlichkeit, ihre rebellische Haltung, ihr Mut, über Dinge zu reden, die damals tabu waren – über ihre familiären Probleme, die Tatsache, dass sie aus ihrem Haus geflohen war, ihren Mann und ihre Kinder verlassen hatte. Von da an versuchte ich alles zu lesen, was ich über sie finden konnte. Damals gab es wenig Literatur über Tristan, dann erschienen Studien in Frankreich. Aber bis vor kurzem war sie eine Unbekannte.
Und Gauguin?
Die Idee, ihn einzubauen, kam mir erst, nachdem ich mit dem Roman angefangen hatte. In allen Biografien von Flora Tristan wurde ihr Enkel Gauguin erwähnt, mit einem Charakter, der der seiner Großmutter sehr ähnlich war. Dann kam ich darauf, einen Kontrast herzustellen, weniger zwischen ihren Persönlichkeiten, sondern mehr zwischen ihren Utopien, den Bildern einer perfekten Gesellschaft, die sie beide hatten. Die waren antagonistisch, aber ihre rebellische Haltung war sehr ähnlich.
Hat Sie Flora Tristan damals auch als sozialistische Aktivistin fasziniert?
Beeindruckt hat mich vor allem, dass sie als eine der ersten aktiv gegen die Frauendiskriminierung gearbeitet hat, gegen die Tatsache, dass Frauen geknechtete, ausgegrenzte Wesen ohne jegliche Rechte waren. In dieser Hinsicht war sie eine echte Pionierin. Außerdem hat sich in ihrem abenteuerlichen Leben die ganze Problematik des 19. Jahrhunderts gut ausgedrückt. Tristan und Gauguin decken ja das ganze Jahrhundert ab: Sie wurde 1803 geboren, er starb 1903.
Flora Tristan und Sie wären heute wohl politische Gegner.
Auf jeden Fall, aber diese Gegnerschaft wäre voller Respekt. Bei all ihrem Idealismus und ihrer grenzenlosen Großzügigkeit war sie eine „Kollektivistin“: Sie glaubte, dass die wichtigsten Werte eines Individuums von seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmt werden. Das Problem der Frau als Individuum existierte für sie nicht, sie wollte vielmehr Lösungen für alle Frauen. Sie wollte kollektive Lösungen für die großen sozialen Probleme, und darin würde ich ihr tatsächlich vollkommen widersprechen. Zugleich glaube ich, dass sie libertär war. Nie wäre sie einer totalitären, stalinistischen Vision verfallen. Einige ihren Initiativen haben keine Anerkennung gefunden. Sie ist die Erste, die eine Arbeiter-Internationale gedacht hat. Vier Jahre vor dem Kommunistischen Manifest hat sie das Büchlein „L’Union Ouvrière“ veröffentlicht, wo sie sagt: Wir Frauen sind allein nicht stark genug, das Frauenproblem zu lösen. Wir müssen uns mit den anderen Opfern der Gesellschaft, den Arbeitern, zusammentun – und zwar über Grenzen hinweg. Das ist der Gedanke der Internationale. Marx und Engels haben ihr diese Urheberschaft nie zugestanden. Engels hat sie außerdem plagiiert: In seinem Buch über die englische Arbeiterklasse plündert er regelrecht Tristans Buch über England, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu erwähnen!
Verschwunden sind solche Verhaltensweisen ja bis heute nicht.
Aber viele der Reformen, die Flora Tristan vorgeschlagen hat, sind in der westlichen Welt Wirklichkeit geworden. Der Gedanke der sozialen Sicherheit etwa, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen, wenigstens dem Gesetz nach. Was sich glücklicherweise nicht durchgesetzt hat, ist ihr Vorschlag einer Lebensplanung für alle Menschen von der Wiege bis zum Grab.
Von vielen Linken – in Lateinamerika und anderswo – werden sie ja als Romancier geschätzt, aber als liberaler Intellektueller kritisiert …
Ja, an meinen liberalen Ideen halte ich fest. Ich glaube, die Demokratie ist der Weg, um Vorurteile auszuschalten. Flora Tristan wäre heute eine große Verteidigerin der Frauenrechte in der islamischen Welt, wo die Ausbeutung und brutale Diskriminierung der Frauen am offensichtlichsten ist.
Ursprünglich hatten Sie sich ja gegen den Irakkrieg ausgesprochen, dann aber nach Ihrem Aufenthalt im letzten Sommer Ihre Meinung geändert. Wie sehen Sie die Rolle der USA nach den Bildern der letzten Wochen?
Durch die Folterungen haben die USA ihre Legitimität verloren. Es ist ja ein gutes Argument, die Demokratie in den Irak bringen zu wollen. Aber die Folterungen, vor allem in diesem Ausmaß und noch dazu in Abu Ghraib, dem Symbol für Saddam Husseins Verbrechen schlechthin– das ist ein tödlicher Schlag für die Koalition. Das Schlimmste ist wohl der Verlust eines großen, gemäßigten Sektors, der trotz des Krieges und der Gewalt noch davon überzeugt war, dass es dem Irak jetzt besser geht als unter Saddam. Diese Menschen unterstützen jetzt den so genannten Widerstand, und das ist tragisch.
Aber einen Zusammenstoß der Fundamentalismen sehen Sie nicht, Islamisten contra Bushs Neokonservative?
Nein. Saddams Diktatur war absolut monströs. Die Möglichkeit einer Entwicklung hin zu mehr Demokratie rechtfertigte für mich die militärische Intervention. Ohne Unterstützung in der irakischen Gesellschaft ist das nicht zu erreichen. Aber ist die Lösung der Rückzug, damit al-Qaida und alle terroristischen Organisationen den Irak übernehmen? Das wäre nur eine Lösung für die Feinde des Westens und der Demokratie.
Zurück nach Lateinamerika. 15 Jahre neoliberale Reformen haben ja nicht zum großen Wohlstand geführt …
In den meisten Gesellschaften sind die liberalen Reformen gescheitert, weil sie sehr schlecht umgesetzt wurden. Alberto Fujimori in Peru oder Carlos Menem in Argentinien, um nur die Extrembeispiele zu nennen, haben die unvermeidlichen Privatisierungen nicht gemacht, um den Wettbewerb zu fördern, sondern sie haben aus öffentlichen Monopolen private gemacht. Die damit verbundene riesige Korruption hat den Liberalisierungsgedanken diskreditiert.
Aber diese Regierungen wurden doch enthusiastisch vom Internationalen Währungsfonds unterstützt …
Der IWF ist ausschließlich auf wirtschaftliche Fragen fixiert. Kein Liberaler, der diesen Namen verdient, wird diese Art der Politik gutheißen. Wo liberale Reformen gut gemacht worden sind, wie in Chile oder auch in Spanien, da waren sie erfolgreich. Vielleicht wären noch die zentralamerikanischen Länder zu nennen. Aber in anderen Ländern ist die Lage sehr beunruhigend, in Venezuela, Ecuador, Bolivien …
Und in Brasilien? Dort setzt Präsident Lula die liberalen Reformen seiner Vorgänger fort.
Lula hat sich für eine sehr pragmatische Position entschieden. Ich glaube, er hat verstanden, dass seine ursprünglichen Vorstellungen untauglich waren. Den Rückhalt der Finanzwelt hat er ja, sein Problem ist jetzt politisch: Viele seiner Wähler fühlen sich verraten.
Ist es nicht problematisch für die Demokratie in Lateinamerika, wenn Regierungen immer öfter das machen, wofür sie gerade nicht gewählt wurden?
Das Problem stellt sich ja für Regierungen entwickelter Länder ganz ähnlich dar. Man muss realistisch sein, die Spielräume für Regierende sind doch sehr begrenzt. Nehmen Sie Deutschland, wo die sozialdemokratische Regierung einschneidende Kurskorrekturen vornimmt. Es gibt eben einen internationalen wirtschaftlichen Kontext, der das Unmögliche bestraft. In der Literatur kann man das Unmögliche machen, aber in der Politik ist es nicht sehr angebracht.
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