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Kulturkritik aus nächster Ferne

Wage das entzaubernde Wort: Jean Améry hat oft geklagt, der Kulturbetrieb lasse ihn nur als „Parade-Opfer“ gelten. Nun ist der Auschwitz-Überlebende als Prosaautor und Philosoph neu zu entdecken – anhand der Werkausgabe und einer Biografie

Das Böse des20. Jahrhunderts war für Améry keineswegs als banal begreifbar

VON JAN SÜSELBECK

Wer nicht sofort ermordet wurde, bekam eine Nummer. Hans Mayer gab man in Auschwitz die Ziffern 172364. Er gehörte zu den 25.437 Juden, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen aus Belgien deportiert worden waren. 23.000 kamen nach Auschwitz. Nur 615 überlebten. Einer von ihnen war Mayer.

1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, war der junge Autor aus Wien nach Antwerpen geflohen. Nach dem deutschen Überfall auf Belgien am 10. Mai 1940 hatten ihn die Belgier als „feindlichen deutschen Ausländer“ nach Frankreich deportiert. Mayer flüchtete aus dem Internierungslager Gurs – zurück ins jetzt deutsch besetzte Belgien.

Er schließt sich der Résistance an, wird verhaftet und von der Gestapo in Breendonk wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ gefoltert. Es folgt eine schlimme Odyssee: Auschwitz, Dora-Mittelbau, Bergen-Belsen.

Jean Améry, wie sich der Überlebende ab 1955 nennt, schlägt sich als freier Journalist durch. Er betrachtet Europa als Heimatloser. Die Remigration nach Österreich ist ihm nach dem Erlittenen zur Unmöglichkeit geworden. Und selbst die deutsche Muttersprache, in der er weiter schreibt, ist ihm historisch kontaminiert. Was bleibt, ist das selbstzerstörende, „immer währende Schriftstellerexil“ eines „ewig Unerwünschten“ (Améry).

Davon erzählt uns Irene Heidelberger-Leonard in ihrer jetzt bei Klett-Cotta erschienenen, ersten umfassenden Biografie dieses großen Publizisten. Sie arbeitet heraus, wie sich Améry trotz – oder gerade wegen – seines Schicksals verzweifelt dagegen wehrte, als bloßer „Berufs-Auschwitzer“ wahrgenommen zu werden. Mit verständlichen Ressentiments hielt er sich bis zur zweiten Hälfte der Sechzigerjahre „den Deutschen gegenüber auffällig zurück“, konstatiert die Biografin.

Sie referiert die Geschichte eines Außenseiters. Mit seiner spezifisch jüdischen Erinnerung an das „Dritte Reich“ unmittelbar nach Kriegsende zum Schweigen verurteilt, übte sich Améry in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren zunächst als nonchalanter kulturpolitischer Kommentator. In seinen Texten wurde die Nach-Auschwitz-Epoche insgesamt „in ihren kulturellen Vernetzungen ins Visier genommen“, schreibt Heidelberger-Leonard. Amérys erstes selbständiges Buch „Geburt der Gegenwart“ (1961) nennt die Biografin noch „keine Kulturgeschichte, keine Kulturphilosophie, eher eine ‚Kultur-Reportage‘ “.

Nüchtern beschreibt die Brüsseler Literaturprofessorin, wie und warum Améry schließlich seine persönliche Zurückhaltung fallen ließ, als am 20. Dezember 1963 in Frankfurt am Main der Auschwitz-Prozess begann. Nun wurde die deutsche Gesellschaft gezwungen, sich erstmals offen mit ihrer verleugneten Verbrechensgeschichte auseinander zu setzen. „Jenseits von Schuld und Sühne“ (1966), Amérys autobiografische Verneinung der Frage, ob der intellektuelle Geist des Opfers in der Lage sei, der Grenzsituation Auschwitz zu trotzen, machte den Publizisten über Nacht berühmt. In knappen Exkursen erhellt Heidelberger-Leonard, warum Améry seinen Leidensgenossen, den Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, und Hannah Arendt, die Verfasserin des Buches „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ (1961), fortan immer wieder scharf kritisierte.

Die Torturen, die er erlitt und als Ich-brechende Erfahrung bis zum Schluss allgegenwärtig mit sich tragen musste, waren für ihn nicht als „banal“ begreifbar. Jetzt bekannte sich Améry offen zu seinem Ressentiment: Auch Levis nachträglicher Versuch, die deutschen Täter zu „verstehen“, lehnte er als verkappte „Versöhnung“ schroff ab.

Für die Kulturindustrie der BRD war jedoch damit die Rolle, die Améry selbst immer vermeiden wollte, festgelegt. Er diente den Talkshows und Kongressen als gern gesehener Garant politischer Correctness. Seine späten Versuche, sich endlich auch als der Prosaschriftsteller zu etablieren, der er von Anfang an hatte sein wollen, wurden vom Feuilleton dagegen weitgehend missachtet. Sein Roman „Lefeu oder Der Abbruch“ (1974) wurde verrissen. Vom Romancier Améry wolle man nichts wissen, klagte der Autor 1975. Man lasse ihn eben nur als „Parade-Opfer und Leidensjuden des Judenleides gelten“.

Es ist höchste Zeit, Améry gleichermaßen als Schriftsteller, als scharfsinnigem Zeitgenossen und kritischem Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen neue Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Deshalb sind Heidelberger-Leonards wunderbare Biografie und die ebenfalls von ihr als Gesamtherausgeberin besorgte Werkausgabe Amérys so verdienstvoll – nicht zuletzt als ein Akt geistesgeschichtlicher Gerechtigkeit.

In der Werkausgabe liegt mittlerweile, herausgegeben von Gerhard Scheit, Band 6 vor: „Aufsätze zur Philosophie“. Hier lassen sich Heidelberger-Leonards biografische Diagnosen an den wunderbar edierten Originaltexten noch einmal genauer überprüfen. Denn erst als Leser, der sich wieder den primären Texten zuwendet, vermag man die Individualität jenes großen Autors wirklich zu ergründen. Die Schärfe und Klarheit der Urteilskraft, der man dabei begegnet, passt ganz und gar nicht zu dem Klischeebild des traumatisierten Opfers, das man sich zu seinen Lebzeiten gerne von Améry machte.

Amérys Schreiben über Philosophie folgt einer Mischung aus „Empathie und Distanz“, wie Scheit in seinem luziden Nachwort festhält. Der Publizist Améry verstand sich nicht als Philosoph, sondern als Porträtierer bedeutender Denker. So stellt er wichtige Strömungen und Systeme der Philosophie „aus nächster Ferne“ (Améry) dar. Auch gegenüber dem von ihm selbst so sehr verehrten Philosophen Jean-Paul Sartre wahrte er einen gewissen Sicherheitsabstand – und entfernte sich schließlich immer mehr vom existenzialistischen Denken des berühmten Franzosen. Améry argumentierte hier stets nach seinem 1968 formulierten Diktum, wonach die intellektuelle Grundverfassung nicht aktivistisch, sondern kritisch sei: „Der Intellektuelle ist stets dem zwar nicht verneinenden, wohl aber bestreitenden Geist verpflichtet und steht darum links.“

Umgekehrt behandelte Améry auch jene Denker mit gebührendem Respekt, deren Theoremen er mit äußerster Skepsis begegnete. Dies gilt vor allem für die Protagonisten des französischen Strukturalismus, deren Werke er als einer der Ersten in Deutschland besprach: Michel Foucault, Claude Lévi-Strauss, Gilles Deleuze und Félix Guattari. Auch wenn Améry das ahistorische Denken ihrer Schule, die das menschliche Subjekt hinter den Strukturen diffuser präexistenter Ordnungen verschwinden lässt, zutiefst suspekt blieb, konnte und musste er den Siegeszug dieser philosophischen Richtung eingestehen.

Dennoch: Amérys leidenschaftliche Attacken gegen Foucaults „Begriffsdichtungen“ und „Kathedralen von erkältender geistiger Ödnis“ üben rigorose Sprachkritik. Auch Martin Heideggers Denken, das auf die französische Philosophie der Nachkriegszeit so großen Einfluss ausübte, wird bei Améry „zu einem sibyllinisch-dunklen Singsang und unheimlichen Spinnstuben-Geflüster“ herabgestuft.

Immer wieder zitiert Améry raunende Sätze, die der moderne Leser nicht mehr zu hinterfragen wage: „Er schluckt sie zumeist resigniert, und sei es auch nur darum, weil er sich nicht durch Ablehnung von derartigen Verbalismen als rückschrittlich decouvrieren will. […] Jeder schielt verschämt nach jedem, meinend, der andere wisse besser Bescheid, und lässt seine eigene Meinung in der Meinung über Meinungen ertrinken. Niemand wagt das entzaubernde Wort.“

Améry, das demonstriert Scheits Textauswahl eindrucksvoll, wagte es. „Ohne ängstliche Haarspalterei“ beharrte er auf einer durchaus konservativen, zuletzt sogar dezidiert positivistischen Forderung nach Sinn: „Die stärkste Waffe der analytischen Vernunft […] ist jenes bewährte Prinzip, das da heißt: ‚Der Sinn eines Satzes ist der Weg seiner Verifizierung‘.“

Dass Améry die Lektüre der Strukturalisten trotzdem empfahl, zeugt von großer denkerischer Noblesse. Mussten ihm doch ihre ins Unhistorische, ja Irrationalistische driftenden Argumentationen vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie als Verharmlosung des Erlittenen erscheinen: Als Foucault in „Überwachen und Strafen“ (1977) suggerierte, die barbarischen Gräuel der mittelalterlichen Folterungen seien nichts gegen die perfiden fortschrittlichen „Disziplinierungen“ der modernen Demokratien und ihres kapitalistischen Profitstrebens, wandte Améry ein, ein seinerzeit Gemarterter und Gevierteilter hätte gegen den Strafvollzug unserer Zeit wohl kaum etwas einzuwenden gehabt.

Améry war selbst ein Gefolterter. Kurz vor seinem Selbstmord hatte er in das Typoskript seines letzten gehaltenen Vortrags noch handschriftlich das Lessing-Zitat eingefügt: „Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Es ist mir schlecht bekommen.“

Bis zuletzt erinnerte er beharrlich an die Möglichkeit unüberwindlichen subjektiven Leids, während das postmoderne Denken zusehends davon zu abstrahieren begann. Er verlor dabei die konkrete deutsche Geschichte nicht aus dem Blick. Améry präsentierte der philosophischen Hybris die nüchterne Rechnung der Aufklärung. Genau deshalb muss man ihn heute wieder lesen.

Irene Heidelberger-Leonard: „Jean Améry. Revolte in der Resignation“. Klett-Cotta, Stuttgart 2004.408 Seiten, 24 €ĽJean Améry: „Aufsätze zur Philosophie“. Werke Band 6. Herausgegeben von Gerhard Scheit. Klett-Cotta,Stuttgart 2004. 650 Seiten, 34 €

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