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Auf den Spuren des Großen Bruders

In London sind nur noch die Pubs Zeitzeugen des Schriftstellers George Orwell. Die Gegend um Fitzrovia, Soho und Oxford Circus diente ihm als Schauplatz für „1984“, seine Geschichte vom totalitären Überwachungsstaat. Heute tummeln sich hier statt Arbeitern vor allem Medienschaffende

… und ging auf einige Polizisten los, die ihn – nun endlich – verhafteten“

von ANDRÉ BERTHY

Das Newman Arms ist ein angenehmer Ort. Der Pub im Londoner Stadtteil Fitzrovia macht mit seinen nautischen Elementen und der rot-braunen Vertäfelung einen gediegenen, maritimen Eindruck. An der Theke stehen einige Frühkunden an diesem Sommernachmittag und trinken Bier. Das gedämpfte Licht taucht den kleinen Raum in schummrige gelbliche Farbtöne. Oberflächlich deutet nichts darauf hin, dass dieser Raum für die Weltliteratur von Bedeutung ist. Tatsächlich hat George Orwell (1903–1950), der im Juni 100. Jahre alt geworden wäre, hier in den 1940ern bereits am Bier genippt. Der Pub heißt „Prole’s Pub“ (Arbeiterkneipe) im Orwells wohl berühmtestem Buch „1984“. Der Roman erzählt die Geschichte einer totalitären Herrschaft des Großen Bruders. Heute weist nichts in der Kneipe auf Orwell hin.

„Ich arbeite in einer Agentur als Texter gleich um die Ecke“, verrät mir Gast Peter, der von Orwells Faible für diesen Pub nichts wusste, obwohl er nicht zum ersten Mal im Newman Arms ist. Mary und Catherine, zwei Sekretärinnen einer benachbarten Versicherungsgesellschaft, wollen wissen, was denn so besonders an Orwell und dem Pub sei? Nun, hier kam Winston, der unglückliche Held aus „1984“, auf die Idee, einen alten Arbeiter zu fragen, wie es vor der Machtübernahme der Partei und des Großen Bruders gewesen sei.

Heute kehrt zwar nicht die Arbeiterklasse in das Newman Arms ein. Dafür treibt sich ein buntes Völkchen aus der Werbebranche im Pub herum. Besonders viel wird nicht über Politik geredet, aber die meisten nehmen es Premierminister Tony Blair krumm, dass er Großbritannien in den Irakkrieg geführt hat. Viele wollen nicht recht glauben, dass in dem von der Regierung vorgelegten Dossier zum Irak tatsächlich die Wahrheit stand. Trotzdem hält sich die politische Frustration in Grenzen.

„Ich habe nicht das Gefühl in einer Diktatur zu leben“, meint Texter Peter schmunzelnd. Auch Mary und Catherine sehen keine Anzeichen für Orwells Zukunftsversionen. „Aber Tony hätte den Kriege lassen sollen“, finden sie, obwohl sie sonst der Labour-Regierung einiges abgewinnen können. „Seit einigen Jahren geht es der Wirtschaft besser“, so der Tenor.

Vom Pub aus kann der Besucher weiter den Spuren von George Orwell und „1984“ folgen. Gleich um die Ecke ist die Percy Street, in der jene Wohnung liegt, in der Winston ein Verhältnis mit Julia anfängt. Die beiden erfahren Menschlichkeit, Nähe und Sexualität – Dinge, die im Jahr 1984 schon lange untersagt waren.

Tatsächlich lag in der Percy Street die Wohnung von Sonia Brownell, der hübschen zweiten Frau von Orwell. Er heiratete sie kurz vor seinem Tod 1950 und vererbte ihr bei der Gelegenheit ein stetig wachsendes Vermögen: Seine Bücher „1984“ und „Farm der Tiere“ sind in zahlreichen Sprachen und Auflagen erschienen. Orwell hatte sich wohl in den 1940er-Jahren oft in der Gegend aufgehalten. Deswegen sind die Orte wohl auch zu Vorlage für 1984 geworden, denn der Schriftsteller pflegte autobiografische Erlebnisse in seinen Bücher zu verwerten.

Beim Verfassen von „1984“ war der kettenrauchende Orwell schon schwer an Tuberkulose erkrankt, was eine weitere Erklärung dafür sein mag, dass er die Gegend zum Schauplatz seiner apokalyptischen Geschichte machte. Tatsächlich ist die Gegend um Fitzrovia, Soho und Oxford Circus auch damals eher der bunte Teil Londons gewesen. Hier siedelten immer wieder Emigranten, unter anderem auch Prominente wie etwa Karl Marx, der in Soho sechs Jahre in der Dean Street wohnte.

Heute ist aus Soho ein Trendstadtteil Londons geworden. Hier haben sich Paul McCartneys Plattenverlag und zahlreiche Firmen aus der Dienstleistungsbranche angesiedelt. Wer durch Soho streift, wird feststellen, dass es immer noch sehr beschaulich sein kann. Kleine Plätze, typische britische Häuser im roten Klinker und niedliche Lokale machen einen angenehmen Eindruck. Zwischen Picadilly Circus, Oxford Circus und Tottenham Court Road gibt es viele italienische Restaurants und Szenelokale mit schickem Publikum. Der frühere Rotlichtbezirk Soho hat sich in den letzten Jahren stark verändert: Die Peepshows sind sehr zurückgedrängt worden, obgleich einige nahe der Charring Cross Road überdauert haben.

Die nahe Tottenham Court Road kommt dann schon Orwellscher daher, wenn der Besucher das abrupt aus der Erde ragende Hochhaus an der Kreuzung zur Oxford Street sieht. Es beherbergt aber kein Geheimdienst oder Ministerium, sondern die Britische Vereinigung der Industrie. Zahlreiche Werbetafeln um das Gebäude herum vermittelt eher das Bild einer dynamischen, weltoffenen Stadt. Von dort biege ich in die Charring Cross Road ein, die ein Mekka für Buchfreunde und Lesesüchtige sein muss. Hier stehen große Buchkaufhäuser neben kleinen Antiquariaten und Spezialbuchhandlungen, die Bücher für jeden Geschmack und Geldbeutel im Angebot haben an. Einige Geschäfte erstrecken sich über mehrere Etagen und haben innen ein Cafe, wo ich bei einem Cappuccino und einem guten Buch etwas verschnaufe.

„Eines Abends ließ sich Orwell in der Miles End Road voll laufen …

Nach einer Weile fühle ich mich wieder fit und mache mich auf zum Trafalgar Square, der in „1984“ „Siegesplatz“ heißt. Orwell wollte mit dieser Namensgebung eine deutliche Parallele zur Politik kommunistischer und faschistischer Regime ziehen, die versuchten die Erinnerung an die Vergangenheit durch neue Namen auszulöschen.

Einige Jahre vorher hatte Orwell auf diesem Platz für einige Wochen als Obdachloser gelebt, unter Zeitungen genächtigt und sich morgens in den Springbrunnen gewaschen. Während dieses Selbstversuchs hatte er sogar versucht, durch das Anzünden von Müll und Holz verhaftet zu werden, um endlich einmal in einer Zelle das Regime richtig kennen zu lernen. Aber die Polizei konnte ihm deutlich machen, dass solches Verhalten eher als ein Kleiner-Jungen-Streich angesehen würde denn als Straftat.

Zu einer Verhaftung brachte es der Schriftsteller gleichwohl doch noch. Eines Abends 1931 ließ er sich in der Miles End Road entsetzlich voll laufen und ging auf einige Polizisten los, die ihn – nun endlich – verhafteten. Orwell hatte erwartet, dass er jetzt endlich das repressive Regime von unten sehen würde, aber stattdessen wurde er in der Bethnal Green Polizeistation ausgenüchtert, verköstigt und am nächsten Tag auf freien Fuß gesetzt. Dennoch nahm er das Gebäude als Vorbild für das Ministerium der Liebe in 1984. Heute findet der Besucher in Miles End und Bethnal Green ein paar gute indische Restaurants und Imbisstuben, die Polizeistation ist längst umgezogen.

Vom Trafalgar Square mache ich mich auf den Weg zum Café Royal in der Regent’s Street. Hier ließ Orwell sich einst nicht vom Verleger der Zeitung Adelphi zum Essen einladen, obwohl er total pleite war, weil er das für Bestechung hielt. In der Tat hatte Orwell öfter Glück und Pech mit Verlegern. Seine für den Left Book Club angefertigte Sozialreportage „Der Weg nach Wigan Pier“ war fast am Verleger gescheitert, weil Orwell in dem Buch die Kommunistische Partei scharf kritisiert hatte. Heute ist das Café Royal ein vornehmer Platz, leider ist der Cafébetrieb eingestellt worden, und da ich mir hier nicht ein volles Menü leisten will, beschließe ich meine Tour durch Orwells 1984 im Crown & Two Chairmen in der Dean Street. Hier stand der Schriftsteller in den 1940ern öfter mit Arthur Koestler und Graham Greene am Tresen.

Newman Arms, 23 Rathbone Street, Fitzrovia, U-Bahnhof Goodge Street oder Tottenham Court RoadEhemalige BBC-Kantine, 200 Oxford Street, U-Bahnhof Oxford CircusMinisterium für Wahrheit, Senate House (heute Verwaltung der Universität London), Malet Street, Bloomsbury, U-Bahnhof Russel Square/Charring Cross Road, von der U-Bahnhof Trafalgar Square zur Station Tottenham Court RoadCafé Royal, 68 Regent’s Street, U-Bahnhof Picadilly Circus. Karl Marx, lebte von 1850 bis 1856 in der Dean Street 28, Soho, und das Crown & Two Chairmen, Dean Street Nr. 31 beide zu erreichen über die U-Bahn-Station Tottenham Court Road

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