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Paul Großstück weiß, wie’s läuft

Er ist der letzte Dandy in Clärchens Ballhaus. Jeden Freitag wirft sich Paul Großstück (84) in Schale. Es soll sein Abend werden, und wenn er nicht allein von der Tanzfläche nach Hause geht, umso besser

16 Anzüge, 18 Sakkos, 65 Krawatten. Das alles zeigt schon, dass Paul Großstück noch einiges vorhat im Leben Aus den Lautsprechern schallt „Sexbomb“. Das Versprechen einer großen Sache hängt im Raum, Paul Großstück greift an

VON KIRSTEN KÜPPERS

Der Freitagabend verläuft so: Paul Großstück stemmt sich aus der moosgrünen Polstergarnitur und läuft in Hausschuhen zum Kleiderschrank. Ein gewaltiger Kleiderschrank ist das. Man kann sagen, ein ganzes Zimmer von Großstücks Wohnung im vierten Stock eines Ostberliner Plattenbaus wird von diesem Schrank ausgefüllt, einem wuchtigen, weiß lackierten Möbelhausmodell mit verspiegelten Schiebetüren. Und der Gang zu diesem Schrank ist ja auch tatsächlich der Beginn einer Routine, die für den 84-jährigen Paul Großstück seit fast 60 Jahren funktioniert. Der Anfang einer gelungenen Abendgestaltung, die zuverlässig jeden Freitag stattfindet.

Großstück ist ein Rentner mit weißen Haaren und einem eckigen Brillengestell im Gesicht. Er sieht nicht aus wie ein Playboy. Aber er hat den Schrank für den richtigen Auftritt. Ein Schrank, der Frauen imponiert. Vielleicht liegt deshalb eine stille Heiterkeit über Paul Großstück. Ein Strahlen, das andere Menschen überlegen lässt, ob im eigenen Leben nicht etwas schiefläuft.

Großstück zerrt am Schrank an einer Schiebetür. Und da warten sie dann: 16 Anzüge, 18 Sakkos, ein rotes und ein weißes ist dabei. 65 Krawatten. Die vielen Hemden, die dazugehören, hängen noch in der Plastikfolie von der Reinigung an der Balkontür und wo sonst im Zimmer Platz ist. Und das alles zeigt schon, dass Paul Großstück noch einiges vorhat im Leben.

„Man muss immer selber was wollen“, meint Großstück, er schnauft. „Ich will ja nicht kaputtgehen.“ Er wühlt in den Jacken und Hosen, zieht einen hellblauen Sportblazer vom Bügel, dazu eine gemusterte Krawatte. Natürlich gehört zum Ausgehen mehr als ein voller Kleiderschrank. Aber eine gute Voraussetzung ist so ein Schrank schon.

Eine Trambahnfahrt später sitzt Paul Großstück an seinem Tisch in „Clärchens Ballhaus“. Ein Hörgerät im Ohr, vor sich ein kleines Bier. Seinen Stoffbeutel mit dem Butterbrot, dem Kamm und dem Kugelschreiber hat er an die Stuhllehne gehängt.

Es ist immer derselbe Tisch im Saal hinten rechts in der Ecke an der Holztäfelung, den die Leute vom Ballhaus freitags für ihn reservieren. Seit Jahrzehnten. Die Musik spielt „Que sera sera“. Ansonsten ist alles ruhig. Auf der Tanzfläche drehen sich zwei Frauen langsam im Schein der Diskokugel, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet.

Clärchens Ballhaus ist eine Gaststätte, in die die Leute schon seit 1913 zum Tanzen gehen. Paul Großstück kann erzählen von den Zeiten nach Kriegsende – er war ja selber dabei –, als die Trümmerfrauen hierher kamen und man es noch leichter hatte als Mann. Als eine Blaskapelle die Schlager der Woche aus dem Rias nachspielte. Und alle versuchten sich einen kleinen Schwips abzuholen von dem bisschen, was es zu trinken gab. Paul Großstück hebt sein Glas.

Inzwischen legt freitags im Ballhaus eine burschikose Frau mit Kurzhaarfrisur die Schlagerplatten auf. Sonst hat sich nicht viel geändert. Das Ballhaus ist ein toller alter Laden, in dem sich keiner für sein Bedürfnis nach solider Unterhaltung schämt: japanische Touristen nicht, auch nicht die Rentnerinnen aus Friedrichshain oder der Webdesigner aus Pankow.

An den vergilbten Wänden des Tanzsaals sorgen silberne Lametta-Fäden für Glanz. Die Buletten sind groß und hausgemacht. Die Musik birgt keine Überraschungen. Clärchens Ballhaus ist nicht fein, dafür warm und laut.

Paul Großstück hängt erzählerisch gerade irgendwo in den letzten Kriegstagen fest. Wie er heimlich eine Eierhandgranate aus der Hosentasche fallen ließ und wie er sich nach der Kapitulation als einfacher Soldat auf der Flucht vor den Amerikanern zu Fuß durchgeschlagen hat – zurück nach Günserode, dem kleinen thüringischen Ort, aus dem er kommt. Louis Armstrong singt „What a wonderful world“.

Großstück bricht ab mit seiner Geschichte. Er stößt den Stuhl nach hinten, wirft Jacke und Schlips auf den Haken an der Wand neben seinem Tisch, setzt sich wieder, haut mit der flachen Hand auf die Tischdecke. Großstück ist nicht zum Reden hier. Der Abend muss losgehen jetzt.

Eine gespannte Unruhe hat sich jetzt ausgebreitet. Die Männer an den langen Tischen haben sich warmgetrunken, das Lachen der Frauen tönt grell. Aus den Lautsprechern schallt „Sexbomb“. Das Versprechen einer großen Sache hängt im Raum, jetzt wird ein Auftrag daraus. Paul Großstück greift an.

„Is noch eine übrig für mich?“, fragt er. Die jungen Frauen am Nachbartisch kichern, schütteln erschrocken die Köpfe. Großstück muss kehrtmachen, und hinter seinem Rücken tuscheln die Frauen dann, stoßen sich mit den Ellenbogen. „Später komm se von alleene“, knurrt Großstück sauer, zurück an seinem Platz in der Ecke. Er kennt die Abläufe, er weiß ja, wie es läuft.

Früher hat Großstück als Hausmeister gearbeitet, und einer, der knietief in nassen Kohlenkellern waten musste und dann platzt auch noch ein Abwasserrohr, der weiß, dass die Dinge nicht immer laufen wie geschmiert. Viermal ist Großstück verheiratet gewesen, von der einen Frau hat er sich scheiden lassen, die anderen drei sind inzwischen gestorben, er musste sieben Kinder durchbringen, hat eine Zweizimmerwohnung zu einer Zehnzimmerwohnung umgebaut, damit die Familie überhaupt reinpasste. Und wenn Großstück etwas aus dieser Zeit mitgenommen hat, dann ist das die Erfahrung: „Wenn die Liebe nich da is, klappt nüscht.“

Bei den vielen Abenden im Ballhaus verhält es sich so, dass sie in Großstücks Erinnerung längst zu einem vertrauten Gesamterlebnis verschwommen sind, in dem das Einzelne keinen Unterschied mehr macht. Großstück weiß: Manchmal ist er lieber mit Kumpels durch die Kneipen gezogen. Mehrmals – das war noch zu DDR-Zeiten – gab es draußen im Hof Schlägereien zwischen NVA-Soldaten und irgendwelchen Unruhestiftern. An manchen Wochenenden wollten die Frauen auch woanders hin.

Großstücks Hände fuchteln im Leeren, er kriegt es nicht mehr zusammen, wie es genau war. Nur dass der Rentner mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart damals bereits hinter der Garderobe stand, das weiß er genau. Und dass der Herr mit der Fliege und dem schwarzen Anzug hier schon genauso ewig als Platzanweiser arbeitet. Die beiden alten Männer gehören wie Großstück zu Clärchens Ballhaus wie Möbelstücke, sie sind grau und allein und immer da.

Eine zierliche ältere Dame hat sich mittlerweile an Großstücks Tisch gesetzt. Sie trägt ein elegantes schwarzes Etuikleid und einen Blazer, der farblich zum Orangensaft passt, an dem sie nippt. Die Dame guckt angestrengt auf die Tanzfläche. Der Abend gewinnt an Fahrt. Diesmal klappt es für Paul Großstück.

Es ist mehr ein Schreiten als ein Gehen, als die beiden auf die Diskokugel zusteuern. Die Musik spielt „It’s so easy to fall in love“, Großstück hält die Frau fest im Arm, und dann passiert es: Die beiden Rentner tanzen, sie sehen auf einmal ganz leicht und frei und alterslos aus, fast schwebend wie Puppen in einer Schneekugel. Der perfekte Moment. Die fahlen Nachmittage in einer Mietwohnung, mittags die Kartoffeln mit Soße, die Müdigkeitsattacken, die Zukunft in irgendeinem tristen Berliner Altersheim – alle Zumutungen des Alltags sind irgendwo draußen vor der Tür von Clärchens Ballhaus abgestellt und vergessen worden.

Paul Großstück schwingt seine Tanzpartnerin in eine schnelle Drehung hinein, er klatscht in die Hände, wippt auf den Zehen. Eine wunderbare Harmonie. Und das ist wohl so ungefähr damit gemeint gewesen, als Großstück vorhin den ziemlich abgedroschen klingenden Satz gesagt hat: „Tanz ist die beste Medizin.“

Das Schöne bleibt, bis ein neues Lied kommt und das Paar eine Pause macht.

Als das nächste Stück anfängt, fällt alle Übereinstimmung auseinander. Die Frau stürzt alleine auf die Tanzfläche. Sie sieht aus wie eine Gazelle, dünn und zerbrechlich. Und sie tanzt ganz für sich allein.

Es ist nicht klar, warum sie davongelaufen ist. Wahrscheinlich wartet sie auf einen besseren Mann. Wahrscheinlich will sie nicht den ganzen Abend an einem über 80-Jährigen kleben bleiben.

„Zicke!“, zischt Großstück. Er guckt in sein Bier und nimmt einen Schluck. Und das ist wiederum das Großartige an Paul Großstück. Dass er sich mit den Vermeidungsstrategien seiner Mitmenschen nicht lange aufhält. Wahrscheinlich ist das die Weisheit des Alters, die Überzeugung, dass die Zeit zu knapp ist, um sich mit den Launen der anderen auseinanderzusetzen.

Großstück bestellt bei der Kellnerin eine „Rock-’n’-Roll-Tänzerin“. Die Kellnerin lacht. Und damit schreitet der Abend voran. Paul Großstück macht einfach weiter. Er geht von Tisch zu Tisch. Er stampft und klatscht und tanzt unermüdlich wie ein Traktor. Er grüßt nach links und rechts, er schwatzt mit anderen Stammgästen. Er ist der Älteste im ganzen Laden, eine Charme sprühende Rakete und er hat immer eine gut aussehende Frau im Arm.

Gegen Mitternacht wird das Licht gedimmt und die Musik spielt einen langsamen Walzer. Es ist der Tanz, der früher alles entschieden hat. „Mit derjenigen bin ich dann nach Hause gegangen.“ Großstück haut diesen Satz heraus, breitet glücklich die Arme aus.

Diese Unverdrossenheit ist wohl eine Art Motor seines Glücks. Großstück hat es ja schon erzählt vorhin. Am Tisch bei den ersten Bieren. Dass es schon immer so war. Früher, wenn er sich etwa an einem dunklen und frostigen Wintermorgen vor der Arbeit in Berlin-Mitte ans Steuer seines Wartburgs gesetzt hat und dann bis an die Ostsee gefahren ist und hinten drin im Kofferraum stapelten sich die Pakete mit der Sportzeitung Sportecho – da war es dasselbe. Keiner hat ihn dafür bezahlt, dass er die Pakete auslieferte, keiner hatte es von ihm verlangt. Großstück ist einmal die Woche morgens um fünf durch die halbe DDR gefahren, einfach weil er fand, dass alle die Zeitung lesen können sollten.

Immer wieder sucht er sich so ein hartnäckiges Projekt. Zurzeit beschäftigt sich Großstück mit Quantenphysik. Er hat eine Umtriebigkeit in sich stecken, die ihn nicht zur Ruhe kommen lässt, und er hat das Gefühl, langsam läuft die Zeit weg.

Im Ballhaus ist jetzt übrigens alles aufgegangen in einer herrlichen Ausgelassenheit, die Tanzfläche ist brechend voll, die Luft ist heiß und dick und schwül. Großstück schiebt sich durch die Menge, er schwankt und schwitzt und ist erst mal zufrieden, er winkt. Als die Kellnerin ein neues Bier bringt, kräht er: „Ick liebe dir!“

Der Abend hat jenen Punkt erreicht, an dem die Stimmung nicht mehr steigen kann, Großstück bleibt noch. Die Musik spielt nicht mehr Sinatras „Strangers in the night“, sondern Madonnas „Like a virgin“. Paul Großstück gibt Gas. Er ist 84, und er könnte die ganze Welt umarmen.

Um vier Uhr früh ist es dann plötzlich vorbei.

Paul Großstück fällt in ein Taxi und fährt auf regennassen Straßen nach Hause. Morgens muss er früh raus.

Er muss in seinem Schrebergarten in Blankenfelde nach der Laube gucken.

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