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Kein Land für Landlose

aus São Gabriel GERHARD DILGER

„Faulenzer, Gesindel“, dröhnt es aus den Lautsprechern. „Das einzige Land, das hier brachliegt, ist das in euren Siedlungen.“ Dutzende Reiter haben sich hinter Transparenten wie „Nein zur Anarchie“ oder „MST – Bedrohung des Friedens“ postiert. Aus 400 Kehlen erschallt die Hymne des brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul: „Sollen unsere Heldentaten der ganzen Welt als Vorbild dienen …“

Der Protest der Großbauern gilt den Mitgliedern der Landlosenbewegung MST. Am Rande einer Landstraße sichern zwei Reihen von Militärpolizisten ihren Anhängern, rund 700 Frauen, Männern und Kindern, freies Geleit. Am Samstag, nach gut neun Wochen und einem 350-Kilometer-Marsch durch Kälte und Regen, sind die Landlosen in der südbrasilianischen 50.000-Einwohner-Stadt São Gabriel eingetroffen.

Im äußersten Süden Brasiliens wollte die brasilianische Regierung zeigen, wie ihre neue Landreform funktioniert: Mitte Mai unterzeichnete Präsident Luíz Inácio Lula da Silva das Dekret, durch das 13.200 Hektar Land des Farmers Alfredo Southall enteignet werden sollten. Wo derzeit ganze 42 Landarbeiter auf die Schafs- und Rinderherden des Großgrundbesitzers aufpassen, sollten künftig 530 Kleinbauernfamilien ihr Auskommen finden. Ende 2001, also noch unter der vorangegangenen Mitte-rechts-Regierung, hatten die Gutachter aus dem Ministerium für ländliche Entwicklung Southalls Ländereien als „unproduktiv“ deklariert und den Weg zur Enteignung freigemacht.

Doch Anfang Juni annullierte eine Bundesrichterin das Dekret, und am vergangenen Donnerstag schlossen sich sieben ihrer Kollegen an. Bei der Besichtigung des Landguts stellten sie Formfehler fest. Nachdem die Gutachter zunächst durch Southall und andere Großbauern am Betreten des Geländes gehindert worden waren, hätten sie beim zweiten Besuch versäumt, den Eigentümer zu benachrichtigen.

Zum Wortführer der konservativen Agrarier hat sich São Gabriels Bürgermeister Rossano Gonçalves aufgeschwungen. Er wettert gegen das „gescheiterte Modell“ der Landreform und beschwört die Ängste der Bevölkerung vor dem MST: „Das sind Arbeitslose aus den städtischen Armenvierteln, die von Landwirtschaft keine Ahnung haben.“

„Der MST geht es gar nicht um Land, die wollen die Macht, notfalls durch den bewaffneten Kampf“, sagt einer der Agrarier am Straßenrand. „Die Regierung Lula und die MST planen die totale Verstaatlichung des Bodens nach sowjetisch-kubanischem Vorbild“, glaubt José Francisco Costa, oberster Bauernfunktionär in São Gabriel. „Chaoten sind das“, schimpft ein 40-Jähriger. „Die kann man nur mit Kugeln stoppen. Wir brauchen wieder eine Diktatur, die mit diesen sozialen Bewegungen aufräumt.“

In einem anonymen Flugblatt, das im Juni zirkulierte, wurde zur „Ausrottung“ des „menschlichen Abschaums“ aufgefordert – mit Gift, Brandstiftung oder Kugeln. Doch die Stimmungsmache hat kaum verfangen. Scharenweise drängen die Stadtbewohner in das Zeltlager, das die MST am Samstag außerhalb von São Gabriel aufgeschlagen hat. „Wir haben es geschafft, wir sind im Herzen des Latifundiums“, jubelt ein Sprecher. Zu einer Solidaritätskundgebung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT kamen tausende in die Provinz. „Ohne die MST hätten viele Brasilianer, die um Land kämpfen, keine Hoffnung mehr und wären in den Armen des Drogenhandels und des organisierten Verbrechens gelandet“, sagt der CUT-Vorsitzende Luíz Marinho.

Die Landverteilung in São Gabriel ist typisch für Brasilien: 122 Großgrundbesitzern mit Ländereien über 1.000 Hektar gehört 38 Prozent der Gemeindefläche. 1.300 Kleinbauern mit maximal 100 Hektar machen zwar 72 Prozent der Landeigentümer aus, kommen aber zusammen nur auf knapp vier Prozent der Fläche. Und eine Siedlung ehemaliger Landloser gibt es auch.

Mittlerweile hat jedoch die Hälfte der 55 Familien, denen vor sieben Jahren je 26 Hektar zugewiesen wurden, aufgegeben. Denn die Straßenverbindungen sind so schlecht, dass sie ihren Reis kaum vermarkten können. Die 28 Kilometer nach São Gabriel dauern eine Ewigkeit. Die Siedlung steht für die Schattenseiten der Agrarreform unter Präsident Fernando Henrique Cardoso, der von 1995 bis 2002 regierte. Dieser bedachte zwar fast 500.000 Familien mit Land, mehr als alle seine Vorgänger zusammen. Doch ohne Kredite, technische Beratung und Infrastruktur haben die Kleinbauern keine Zukunft – schätzungsweise jeder vierte hat bereits das Handtuch geworfen.

Präsident Lula will auf mehr Qualität als auf Quantität setzen. Bisher hat sich aber nur wenig bewegt. Im zuständigen Ministerium mahlen die bürokratischen Mühlen besonders langsam. Minister Miguel Rossetto vom linken Flügel der Arbeiterpartei PT hat es gründlich umgekrempelt und zahlreiche Sympathisanten der MST mit Posten versorgt. Doch der Projektetat ist von 136 auf 48 Millionen Euro zusammengestrichen worden – schleierhaft, wie damit noch in diesem Jahr 60.000 Familien angesiedelt werden sollen, wie die Regierung versprochen hatte. Damit sie überhaupt etwas vorweisen kann, will sie in den nächsten Monaten 7.000 Hektar bundeseigenes Territorium verteilen.

Dennoch zeigen sich die MST-Mitglieder an der Basis wie in den Führungsgremien erstaunlich geduldig. Miguel Stedile im Regionalbüro von Porto Alegre vertraut auf den Präsidenten: „Anders als Cardoso, der Brasilien in den Dienst des Latifundiums gestellt hatte, begegnet uns Lula nicht mehr mit Repression.“ Wie die MST sei der Präsident davon überzeugt, dass mit dem neoliberalen Wirtschaftsmodell gebrochen werden müsse, so Stedile. Die Frage sei, wie man das bewerkstelligen könne – er jedenfalls unterstütze den behutsamen Ansatz der Regierung. Nach der ersten Enttäuschung überwiegt nun auch im MST-Camp von São Gabriel wieder die Zuversicht. Der Präsident bemühe sich, meint der Landarbeiter Hélio Dickel, der die letzten vier Jahre in diversen MST-Zeltlagern verbracht hat: „Wenn Lula die Landreform nicht hinkriegt, dann schafft es keiner.“ Im Gegensatz zu früher säßen jetzt die Bundesgenossen in der Regierung, sagt sein Kollege Edson Borba – die Mobilisierung der sozialen Bewegungen helfe Lula dabei, den Konservativen auch innerhalb der Regierung etwas entgegenzusetzen.

Das ist für den Präsidenten nicht immer einfach. Denn nicht überall handeln die Landlosen so diszipliniert wie in Südbrasilien. Fast täglich werden Lastwagen geplündert oder Farmen verwüstet, vor allem im Nordosten. Seit Jahresbeginn gab es in ganz Brasilien 172 Landbesetzungen – 2002 waren es nur 101.

Prominente MST-Sprecher gefallen sich immer wieder in verbalen Provokationen, die die Medien lustvoll ausschlachten. So verkündete Chefstratege João Pedro Stedile, einem „Heer“ von 23 Millionen Landlosen stünden 27.000 Großgrundbesitzer gegenüber. Wenn sich 1.000 Landlose zusammentäten, wäre es ein Leichtes, einen Latifundisten zu „packen“. Damit lieferte er nicht nur den Agrariern von São Gabriel Argumente, sondern zwang auch den Präsidenten zur Distanzierung: Die Gesetze gälten auch für die Landlosen.

Die gescheiterte Enteignung der 13.200 Hektar in Südbrasilien ist nur das jüngste Beispiel für jene Klippen, die die Mitte-links-Regierung bei ihrer Reformpolitik umschiffen muss. Zur juristischen Fehleinschätzung, die zur Annullierung des Präsidentendekrets führte, kommt der wachsende Widerstand all jener, die ihre Privilegien bedroht sehen. Die Großbauern aus Rio Grande do Sul gehören dabei noch nicht einmal zu den Mächtigsten.

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